Schattenfall
»Zauberformeln«. Auf die Folgen der Ereignisse fixiert und blind für deren Ursachen, blickte Leweth nur auf das traurige Ergebnis, auf die Menschen und ihre Taten. Und die wurden ihm zum Vorbild dessen, was lange zuvor war.
Doch wie die Dunyain in Erfahrung gebracht hatten, war das, was früher war, nicht menschlich gewesen.
Es muss eine andere Erklärung geben. Es gibt keine Hexerei.
»Was weißt du über Shimeh?«, fragte Kellhus.
Die Hüttenwände erzitterten unter einigen wilden Böen, die Flammen im Kamin flackerten unvermittelt auf, und die Pelzbündel an den Haken schaukelten leise hin und her. Leweth ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Er runzelte die Brauen und schien zu lauschen, ob jemand in der Nähe sei.
»Das ist sehr weit weg, Kellhus. Und der Weg dorthin ist gefährlich.«
»Ist Shimeh denn für dich nicht… heilig?«
Leweth lächelte. Ob ein Ort nun sehr weit weg oder ganz in der Nähe lag – in beiden Fällen taugte er nicht zum Heiligtum. »Ich habe diesen Namen erst ein paarmal gehört«, sagte er. »Der Norden gehört den Sranc. Die wenigen Menschen, die noch in dieser Gegend leben, sind ständiger Verfolgung ausgesetzt und verlassen die Städte Atrithau und Sakarpus nur noch selten. Vom Gebiet der Drei Meere wissen wir kaum etwas.«
»Vom Gebiet der Drei Meere?«
»Na, von den Völkern im Süden«, gab Leweth erstaunt zurück und schaute ihn mit großen Augen an. Kellhus wusste, dass Leweth seine Unwissenheit als Indiz seiner Gottähnlichkeit begriff. »Hast du etwa nie vom Gebiet der Drei Meere gehört?«
»Deine Leute mögen vom Rest der Welt abgeschnitten sein, aber meine noch viel mehr.«
Leweth nickte weise. Jetzt musste er also über tiefgründige Dinge reden. »Das Gebiet der Drei Meere gab es noch nicht lange, als der Nicht-Gott und seine Rathgeber den Norden zerstörten. Jetzt, da der Norden nur noch ein Schatten ist, konzentriert sich die Menschenmacht rund um die Drei Meere im Süden.« Entmutigt, wie schnell ihn sein Wissen verließ, hielt er inne. »Mehr weiß ich eigentlich auch nicht – nur noch ein paar Namen.«
»Wie hast du eigentlich von Shimeh erfahren?«
»Ich hab mal Hermelin an einen dunkelhäutigen Mann verkauft, einen Ketyai, der mit einer Karawane unterwegs war. Leute mit dunkler Haut hatte ich nie zuvor gesehen.«
»Mit einer Karawane?« Dieses Wort war Kellhus neu, doch er fragte so, als wollte er nur wissen, von welcher Karawane der Trapper sprach.
»Jedes Jahr kommt eine Karawane aus dem Süden nach Atrithau – vorausgesetzt, sie schafft es durch das Gebiet der Sranc. Sie startet in einem Land namens Galeoth, erreicht erst Sakarpus und bringt dann Gewürze, Seide und andere wundersame Dinge nach Atrithau. Hast du schon mal Pfeffer probiert, Kellhus?«
»Was hat dir der dunkelhäutige Mann über Shimeh erzählt?«
»Nicht viel, ehrlich gesagt. Er hat vor allem von seiner Religion geredet und erzählt, er sei Inrithi, also Anhänger des Letzten Propheten, eines gewissen Inri…« – Leweths Brauen rückten einen Moment zusammen – »… oder so ähnlich. Kannst du dir das vorstellen? Da behauptet einer einfach, nach ihm sei Schluss mit Prophezeiungen!« Leweth machte eine Pause, blickte ins Unbestimmte und versuchte, die Begegnung in Worte zu fassen. »Er hat immer wieder gesagt, ich sei verdammt, wenn ich mich nicht seinem Propheten unterwerfen und mein Herz den Tausend Tempeln öffnen würde. Tausend Tempel – den Namen werde ich nie vergessen.«
»Und Shimeh war diesem Mann heilig?«
»Shimeh war sein Allerheiligstes! Dort hat sein Prophet vor vielen Jahren gelehrt. Aber ich glaube, es gab da ein Problem. Irgendwas mit Kriegen und mit Heiden, die den Inrithi die Stadt abgenommen haben…« Leweth stockte, als sei ihm gerade etwas Seltsames aufgefallen. »Im Gebiet der Drei Meere kämpfen Menschen gegen Menschen, Kellhus, und die Sranc-Bestien sind ihnen ganz egal – kannst du dir das vorstellen?«
»Also ist das heilige Shimeh Heiden in die Hände gefallen?«
»Und das ist den Inrithi recht geschehen«, meinte Leweth und klang plötzlich bitter. »Dieser Hund hat auch mich ständig einen Heiden genannt…«
Bis tief in die Nacht sprachen sie von fernen Ländern, während der Wind um die Hütte heulte und die dicken Holzwände ab und an kräftig zittern ließ. Und im Halbdunkel des verglimmenden Feuers zog Anasûrimbor Kellhus den Trapper allmählich in seinen eigenen, stets langsamer werdenden Rhythmus hinüber und ließ ihn
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