Schattenfreundin
sie ihren Laptop hoch und zeigte ihnen die Mail.
Das Foto zeigte einen offenen Sarg, in dem eine tote Person lag, die offenbar schon vor längerer Zeit gestorben war, denn die Hände, die auf der weißen Decke ruhten, sahen wie die eines Skeletts aus. Ob es sich um eine Frau handelte oder um einen Mann, konnte man nicht erkennen. Das Gesicht war mit einem dünnen Tuch bedeckt.
Unter dem Foto stand ein kurzer Text:
Ihr werdet büßen. Wie der Vater, so der Sohn.
»Was soll das bloß bedeuten?«, fragte Katrin Ortrup mit zitternder Stimme. »Und was soll dieses Foto?«
Charlotte überlegte. »Ich bin sicher, dass die Täterin mehr als nur eine Person damit ansprechen will«, sagte sie schließlich. »Nicht nur Sie als die Mutter, sondern wahrscheinlich Ihre ganze Familie. Und sie offenbart uns damit auch ihr Motiv. Rache.«
» Wie der Vater, so der Sohn . Aber was habe ich denn damit zu tun?«, fragte Thomas Ortrup und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Mail ist an Sie gerichtet, Frau Ortrup. Wir müssen also davon ausgehen, dass Alekto von Ihrem Vater spricht, nicht von Ihrem Mann. Von Ihrem verstorbenen Vater und von Leo.«
Auf einmal herrschte Totenstille im Zimmer. Niemand sagte ein Wort, aber alle schienen das Gleiche zu denken.
»Und sie sind beide tot«, flüsterte Luise Wiesner schließlich und schlug die Hände vors Gesicht.
»Nein, nein!« Katrin Ortrup sprang auf und schüttelte energisch den Kopf. »Das kann einfach nicht sein! Leo ist nicht tot! Sie glauben doch auch, dass mein Sohn noch am Leben ist, oder?« Ihre Stimme wurde schrill, und sie brach in Tränen aus.
»Bitte, Frau Ortrup, beruhigen Sie sich«, sagte Charlotte. »Wir gehen weiterhin davon aus, dass Leo noch am Leben ist.«
Sie wusste, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Statistisch gesehen tauchten die meisten Kinder innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach ihrem Verschwinden wieder auf. Wenn nicht … »Wenn Leo tot wäre, hätte Alekto vermutlich keinen Kontakt zu Ihnen aufgenommen«, fügte sie hinzu.
»Und dieses furchtbare Foto?«, fragte Thomas Ortrup. »Wer soll das sein? Und was haben wir damit zu tun?«
»Vielleicht glaubt die Täterin, dass Ihre Familie etwas mit dem Tod dieser Person zu tun hat«, warf Käfer ein.
»Das ist doch absurd!«, rief Thomas Ortrup aufgebracht. »Halten Sie uns vielleicht für Mörder?«
»Herr Ortrup, bitte!«, schaltete Charlotte sich ein. »Versuchen wir einmal, uns in die Psyche der Täterin hineinzudenken. Es reicht vielleicht schon aus, dass sie überzeugt ist, jemand in Ihrer Familie hat etwas zu tun mit der toten Person auf dem Bild.«
»Aber wir wissen doch noch nicht mal, wer es überhaupt sein könnte!«
»Vielleicht finden unsere Forensiker noch Anhaltspunkte, die Rückschlüsse auf die Identität der Person zulassen«, sagte Käfer. Er sah abwechselnd zu Katrin und Thomas Ortrup. »Gibt es in Ihrem Umfeld irgendeine Person, die Sie lange nicht gesehen haben oder mit der Sie irgendetwas Ungewöhnliches verbindet?«
Frau Ortrup zuckte mit den Schultern. »Nur diese Tanja«, sagte sie bitter.
Herr Ortrup schüttelte den Kopf. »Nein, mir fällt auch keiner ein.«
»Und wie ist es mit Ihnen?«, fragte Charlotte und sah zu Luise Wiesner.
Frau Wiesner hatte die ganze Zeit in der Tür gestanden. Jetzt ging sie langsam zum Sofa und setzte sich. »Es gab da eine Frau«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, wer sie ist, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das etwas mit Leos Verschwinden zu tun hat, aber jetzt, wo Sie so fragen …«
»Alles könnte wichtig sein, Frau Wiesner.«
»Mein Mann war in den letzten Wochen vor seinem Tod irgendwie verändert. Manchmal wirkte er geradezu ängstlich, und er war auch verschlossener als sonst.«
»Ängstlich? Verschlossener? Was meinen Sie damit?«, fragte Charlotte.
»Ich weiß nicht, vielleicht hatte es mit den Anrufen zu tun, die er häufiger bekam und über die er partout nicht sprechen wollte. Irgend so eine dumme Tante, die was verkaufen will , hat er immer nur gesagt. Ich habe von Anfang an gespürt, dass das nicht die Wahrheit ist, aber ich wollte nicht in ihn dringen. Nach diesen Anrufen war er immer ganz durcheinander.«
»Wie oft hat er diese Anrufe bekommen?«
»Genau weiß ich es nicht. Aber mir fällt gerade auf, dass diese Frau nach seinem Tod nie wieder angerufen hat. Das ist doch seltsam, oder? Wenn sie was verkaufen wollte, hätte sie es weiter
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