Schattenfreundin
versucht, oder nicht? Sie konnte doch nicht wissen, was passiert war«, sagte Frau Wiesner.
»War Ihr Mann immer selbst am Telefon, wenn die Frau anrief, oder haben Sie auch mal mit ihr gesprochen?«, fragte Käfer.
Frau Wiesner überlegte. »Nein, ich habe nie mit ihr gesprochen. Aber ich erinnere mich, dass ein paar Mal gleich aufgelegt wurde, wenn ich ans Telefon ging.«
»Glauben Sie, das war Tanja?«, fragte Katrin Ortrup.
»Es wäre möglich«, antwortete Charlotte. »Und wenn sie es war, dann ist auch nicht auszuschließen, dass sie etwas mit dem Tod Ihres Vaters zu tun hat.«
»Aber er ist an Herzversagen gestorben! Das haben die im Krankenhaus doch gesagt! Die hätten doch feststellen müssen, wenn er …« Katrin Ortrup konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
»Als Ihr Vater verstarb, gab es keinen Grund, an ein Verbrechen zu denken«, sagte Charlotte. »Aber ausgerechnet am Tag seiner Beerdigung wird sein Enkel entführt. Ob das nur ein Zufall ist? Und in dieser Mail stellt die Täterin ganz bewusst einen Zusammenhang her zwischen Ihrem Vater und Ihrem Sohn.«
»Ich werde eine Exhumierung beantragen«, sagte Käfer und machte sich eine Notiz.
»Warum das denn?«, fragte Luise Wiesner fassungslos. »Muss das sein? Ich möchte das nicht …«
»Ich kann Sie sehr gut verstehen, Frau Wiesner«, sagte Charlotte behutsam. »Aber mein Kollege hat recht. Wir müssen auf Nummer sicher gehen und die Todesursache überprüfen. Dabei sollten wir die sterblichen Überreste auf Fremdeinwirkung und Abwehrspuren untersuchen lassen.«
»Aber warum sollte diese Frau das denn tun?« Luise Wiesner tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Tränen ab. »Mein Mann war ein angesehenes Mitglied unserer Gemeinde, er war bei allen beliebt …«
»Das stimmt«, pflichtete ihre Tochter ihr bei. »Ich kenne keinen, der ihn nicht geschätzt hat.«
»Oh Gott, Franz …«
Käfer wandte sich an Katrin Ortrup. »Haben Sie auf die Mail schon geantwortet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gut. Das sollten Sie auch erst mal nicht tun. Ich brauche Ihr Facebook -Passwort, damit unsere IT-Spezialisten sich die Mail vornehmen können. Vielleicht können sie herausfinden, von wo sie abgeschickt wurde.«
»Glauben Sie wirklich, die Frau hat die Mail zu Hause von ihrem Computer verschickt?«, fragte Herr Ortrup.
»Denkbar ist alles. Auf jeden Fall müssen wir mögliche Trittbrettfahrer ausschließen«, sagte Käfer. »Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sich an ein Verbrechen hängt, um Aufmerksamkeit zu erregen.«
Als sie wieder am Auto standen, fragte Käfer: »Wie teilen wir uns auf? Wer geht zu Bauer und wer zu den IT-Jungs?«
»Nimmst du die IT-Jungs? Dann lass auch gleich den Telefonanschluss der Wiesners überprüfen, okay? Vielleicht kriegen sie was raus über die anonymen Anrufe. Ich geh zu Bauer. Um diese Uhrzeit müsste ich ihn ja noch erwischen. Aber zuerst bringst du mich bitte kurz nach Hause, damit ich meinen Wagen abholen kann.«
Es war noch nicht einmal drei Uhr, als sie am Institut für Rechtsmedizin ankam. Für gewöhnlich verließ Frank Bauer sein Büro am frühen Nachmittag, um in der Pathologie weiterzuarbeiten. Bauer war der einzige forensische Anthropologe, der mit der Kriminalpolizei in Münster zusammenarbeitete. Charlotte mochte den ruhigen, stillen Mann, der im Kollegenkreis als Eigenbrötler galt. Sie wusste es besser, seit sie sich irgendwann einmal zufällig in der Präsidiumskantine getroffen hatten und, weil ein wenig Zeit war, ein wenig länger miteinander reden konnten. Bauer war ein vielseitig interessierter Mann, er ging regelmäßig ins Theater, liebte das Wandern in den Alpen und unternahm viel mit seinen Freunden. »Sollen die anderen doch über mich denken, was sie wollen«, hatte er Charlotte damals schmunzelnd gestanden. »Für viele Menschen ist die Welt sehr einfach gestrickt: Wer sich tagein, tagaus mit Knochen beschäftigt, kann nur ein seltsamer und introvertierter Mensch sein. Fertig ist das Vorurteil.«
Charlotte schätzte seinen messerscharfen Verstand und seine präzisen Analysen. Bauer war ein international anerkannter Experte, der schon zur Aushebung von Massengräbern in den Kosovo gerufen worden war und vor dem Den Haager Gerichtshof als Zeuge ausgesagt hatte.
Wie immer waren die Vorhänge zugezogen, als Charlotte in sein Büro trat. In dem abgedunkelten Raum saß Bauer mit einem Vergrößerungsglas in der Hand unter einer hellen Lampe und sah sich Fotos von
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