Schattenfreundin
Arbeit wartete auf sie.
Es war fast Mitternacht, als Charlotte das Präsidium verließ. Sie war frustriert, denn die Überprüfung der Beerdigungsinstitute hatte nichts erbracht. Viele der ehemaligen Mitarbeiter waren längst in Rente, andere hatten den Job gewechselt oder waren weggezogen. Niemand konnte sich daran erinnern, dass jemand verlangt hatte, den Sarg mit einer skelettierten Leiche zu öffnen, um ein Foto zu machen.
Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war. Ein langer Tag lag hinter ihr, vollgepackt mit aufwühlenden Ereignissen. Wieder sah sie das Kind vor sich, wie es in der Wanne saß … Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken! Sie wollte einfach nur nach Hause, duschen, ein bisschen herumtrödeln und dann ins Bett, damit sie morgen wieder frisch und munter war. Seufzend stieg sie in ihr Auto.
Nur Minuten später schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf. Dumpfe, abgestandene Luft schlug ihr entgegen, und so riss sie als Erstes die Fenster auf, um die angenehm kühle Nachtluft hereinzulassen.
Sie stellte sich unter die Dusche, aber auch das vertrieb nicht ihre innere Anspannung. Immer wieder dachte sie an Leo Ortrup. Wo mochte er jetzt sein? Welche Qualen musste er erleiden …
Resigniert ließ sie sich aufs Sofa fallen und stellte den Fernseher an. Irgendwelche erhitzten Gemüter stritten über irgendetwas Uninteressantes. Nein, danke. Sie zappte weiter. Ein Krimi? Auch das noch! Davon hatte sie im wirklichen Leben schon mehr als genug. Lustlos klickte sie sich durch die Programme, schließlich schaltete sie den Fernseher wieder aus. Ihr Blick fiel auf den Tisch neben dem Sofa. Dort lag das Buch, das sie gerade las. Stefan Zweigs Biografie über Marie Antoinette. Sie liebte die Sachen von Stefan Zweig, sie hatte fast alles von ihm gelesen. Nur diese Biografie fehlte noch. Sie schlug das Buch auf, suchte die Stelle, wo sie gestern aufgehört hatte – und machte es wieder zu.
Seufzend stand sie auf und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Sie sah in den Spiegel und hielt inne. Auf einmal purzelten tausend Gedanken durch ihren Kopf. Keiner ließ sich fassen, und immer wieder blendete sich ein bestimmtes Gesicht dazwischen.
»Warum eigentlich nicht?«, sagte sie zu sich selbst.
Bald darauf sah sie an dem Mehrfamilienhaus hoch. In Bernds Wohnung brannte noch Licht, er musste also noch wach sein. Sie staunte immer noch über sich selbst, als sie schließlich auf die Klingel drückte. Schon wieder tat sie etwas, das ihren Vorsätzen widersprach. Ein Liebhaber ist ein Liebhaber – und sonst nichts. Aber heute Nacht war das irgendwie anders.
Nach einer Weile meldete sich Bernds müde Stimme. Als er hörte, wer vor seiner Tür stand, klang sie auf einmal munter.
»Wie schön«, sagte er nur, als sie über den Flur kam, und schloss sie in die Arme.
Kurz darauf lagen sie einfach nur nebeneinander in seinem Bett. Er hatte den Arm um sie gelegt.
Charlotte schloss die Augen. Sie spürte, dass sie endlich das gefunden hatte, was sie vorhin so krampfhaft gesucht hatte: innere Ruhe und eine angenehme Leichtigkeit. Doch bevor sie einschlief, ahnte sie, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde. Sie hatte wieder diesen dumpfen Druck in der Magengegend, der sich immer dann einstellte, wenn eine Nacht voller Albträume bevorstand.
Trotz dieser Befürchtungen schlief sie bereits Sekunden später tief und fest. Aber irgendwann in der Nacht war er wieder da, der Traum, wie sie ins Bad rennt und voller Entsetzen sieht, dass Blut über den Rand der Badewanne schwappt.
8
Leo saß im Sandkasten und spielte friedlich vor sich hin. Er versuchte, mit seinen Förmchen einen Sandkuchen zu backen und ihn voller Hingabe zu verzieren. Wieder trug er sein Sesamstraßen-T-Shirt. Wie schmutzig es war, sie musste es unbedingt waschen.
»Leo! Komm, wir wollen nach Hause!«, rief sie, aber er reagierte nicht.
»Leo!«
Leo schnitt vorsichtig ein Stück von seinem Kuchen ab und legte es auf einen Plastikteller. Plötzlich trat eine Frau hinzu und kniete sich zu ihm. Lachend hielt Leo ihr den Teller hin, und die Frau tat so, als würde sie den Kuchen probieren. Leo strahlte bis über beide Ohren.
»Leo! Leo!« Sie wollte zu ihm, wollte ihn an sich nehmen, sie lief so schnell sie konnte, aber sie kam nicht von der Stelle.
Die Frau nahm Leo auf den Arm und drückte ihn an ihre Schultern. Dann drehte sie sich langsam um. Sie lächelte.
Es war Tanja …
Katrin schrak hoch. Verwirrt sah sie sich um. Wo war sie?
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