Schattenfreundin
gestürzt.
Bei der Mutter des Jungen stellte der Notarzt einen Alkoholwert von über drei Promille im Blut fest. »Die kenne ich schon. Ich war schon mal hier«, sagte er kopfschüttelnd.
Charlotte zog dem Jungen schnell ein paar Sachen an, dann brachte sie ihn zu einem der Sanitäter, der ihn in den Notarztwagen setzte. Sie würden nach Münster ins Klinikum fahren. Wenig später bog der Notarztwagen vom Grundstück auf die Straße ein.
Käfer ging zum Auto, setzte sich hinein und griff zu seinem Handy. Charlotte folgte ihm.
»Ich habe gerade mit dem Jugendamt telefoniert«, sagte er, als Charlotte sich neben ihn gesetzt hatte. »Die Frau wohnt nur vorübergehend in dem alten Bauernhaus. Es ist übrigens ihr Elternhaus. Die Eltern sind schon lange tot, der Vater des Kindes ist verschwunden. Nächste Woche hätte die Frau mit dem Kind in eine kleine Wohnung einziehen können, die die Sozialbehörde ihr zur Verfügung gestellt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kapier einfach nicht, warum das Jugendamt den Kleinen bei der Mutter lässt. Das ist doch eine Schande.« Er ließ den Motor an und fuhr los. »Aber vielleicht haben wir diesem Kind Schlimmeres erspart. Dann war der Einsatz nicht umsonst.«
»Ja, vielleicht«, sagte Charlotte. Sie ahnte, was jetzt kam.
»Was war eigentlich vorhin mit dir los?«, fragte Peter. »Du warst ja wie blockiert.«
»Tut mir leid, okay?«
»Nein, nicht okay. Ich bin dein Kollege, und ich will wissen, was da los war. Ich habe keinen Bock, dass so was noch mal vorkommt.«
»Wird es nicht«, sagte Charlotte und starrte auf ihre Hände.
»Das will ich hoffen.«
»Tut mir wirklich leid.«
»Willst du darüber reden?«
»Nein. Jedenfalls nicht jetzt. Später vielleicht.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich versprechs. Okay?«
»Okay.«
Den Rest der Fahrt schwiegen beide. Charlotte dachte nach. Schon vor langer Zeit hatte sie sich geschworen, mit niemandem über das zu sprechen, was damals passiert war. Damals, am 21. Juni 1979, an dem Tag, der ihr Leben für immer verändert hatte. Sie hatte die schrecklichen Ereignisse in sich begraben wollen, und bis vorhin hatte sie geglaubt, es wäre ihr wenigstens einigermaßen gelungen. Wie naiv sie gewesen war! Ja, sie musste mit Peter darüber sprechen. Das war sie ihm schuldig. Und sie musste sich in Zukunft besser unter Kontrolle haben.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Scheiße! Das habe ich ja völlig vergessen!«
»Was denn?«
Charlotte kramte ihr Handy aus der Tasche. »Katrin Ortrup hatte versucht, mich zu erreichen. Hoffentlich war es nichts Wichtiges.«
Wenig später hatte sie Katrin Ortrup am Apparat. »Gibt es etwas Neues?«, fragte sie.
»Ich habe eine Mail bekommen von Alekto «, sagte Frau Ortrup atemlos.
»Und was steht drin?«
»Ich verstehe es nicht. Da ist ein Foto dabei, das macht mir furchtbare Angst …«
»Wir sind in spätestens einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte Charlotte schnell und drückte ihr Handy aus.
Sie tat es nicht gerne, aber es ging nicht anders. Was sollte sie machen? Sie musste ab und zu das Haus verlassen. Da konnte sie ihn ja nicht einfach herumlaufen lassen. Er war noch so klein. Aber bald würde alles anders werden. Dann würde er auch nicht mehr so oft weinen. Und irgendwann, da war sie sich ganz sicher, würde er sie lieben, als wäre sie seine Mutter. Kinder vergaßen ja so schnell …
Sie sah auf die Uhr. Gleich musste sie los. Vorher machte sie sich noch rasch einen Tee, setzte sich in den Liegestuhl auf die Veranda und schaute Richtung Wald. Der Anblick der dicht wachsenden Bäume faszinierte sie immer wieder. Wie eine Wand, die sie abschirmte vor dem Leben da draußen, die sich schützend um sie stellte und sie behütete. Es war wie im Paradies.
Sie blinzelte in die Sonne und war zufrieden.
Unvermittelt schreckte sie auf. Weinte er? Nein. Er schlief wahrscheinlich schon.
Ihr Blick fiel auf ein paar schöne glatte Kieselsteine, die neben der Veranda in den Beeten lagen. Manche sahen aus wie kleine Vogeleier.
Wie hübsch, dachte sie. Vielleicht konnte sie mit einem Handbohrer kleine Löcher hineinmachen und die Steine als Halskette tragen. Später am Nachmittag würde sie es ausprobieren.
Beschwingt stand sie auf, sammelte die Steine ein und ging ins Haus.
Katrin und Thomas Ortrup sahen erwartungsvoll hoch, als Luise Wiesner sie und Peter Käfer hineinführte.
»Es ist grauenvoll«, sagte Frau Ortrup, die noch blasser und angespannter wirkte. Mit zitternden Händen fuhr
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