Schattenfreundin
sich, und Regina Hellmann stand vor ihr.
»Das ging ja schnell, Frau Schneidmann. Haben Sie Leo inzwischen gefunden?«
»Leider nein. Deshalb muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich. Kommen Sie rein.«
Wenig später saßen die beiden Frauen im Büro der Kindergartenleiterin, jede vor sich ein Glas Mineralwasser.
»Nein, einen Klaus oder Klausi haben wir nicht«, sagte Frau Hellmann. »Das brauche ich gar nicht erst nachzuprüfen. Einen so ungewöhnlichen Namen würde ich mir sofort merken.«
»Sie finden Klaus ungewöhnlich?«, fragte Charlotte erstaunt.
Die Leiterin lächelte. »Sie haben wohl keine Kinder, was?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Wenn man nur nach den Namen ginge, könnte unser Kindergarten auch vor hundert Jahren hier gestanden haben«, erklärte Frau Hellmann. »Heute heißen die Kinder wieder Konrad, Richard, Mathilda, Henriette oder Fritz. Die Zeit der Jürgens, Jochens und Klausis kommt dann wahrscheinlich in zehn Jahren wieder.«
»Das war mir gar nicht bewusst.«
»Natürlich kommt es auch auf die Gegend an. Unser Kindergarten liegt nicht in einer Kevin-Mandy-Gegend.«
Charlotte trank einen Schluck. Sie verstand, was Frau Hellmann meinte. Der Kindergarten lag mitten in einer gutbürgerlichen Gegend, wo die Eltern Wert legten auf Bildung und Erziehung. Die Kinder trugen nicht irgendwelche modischen T-Shirts, sondern Poloshirts mit Markenlogo.
»Frau Hellmannn, können Sie sich vorstellen, wen ein kleines Kind meint, wenn es jemanden als der ist anders bezeichnet?«, fragte Charlotte.
Die Leiterin überlegte. »Damit könnte zum Beispiel Superman oder Spiderman gemeint sein. Für Kinder sind das keine richtigen Menschen.«
»Hm. Comic-Helden …«
»Ja, aber nicht nur die«, fuhr Frau Hellmann fort. »Die Wahrnehmung von kleinen Kindern ist völlig anders als die von Erwachsenen. Für die Kleinen ist beispielsweise auch ein König anders, oder eine Prinzessin. Aber auch ein Feuerwehrmann zählt dazu, denn der hat ja eine Uniform an, durch die er sich definiert. Jedenfalls aus Sicht von Kindern.«
Charlotte überlegte. »Das heißt, alle, die nicht aussehen wie normale Menschen, die es ohne Krone oder ohne Uniform in den Augen der Kinder gar nicht geben würde, sind keine richtigen Menschen und deshalb anders? «
»Ganz genau. Neulich wurde eines unserer Kinder von seinem Opa abgeholt, der eine Beinprothese trägt. Das ist auch so ein Fall. Zufällig bekam ich mit, wie ein Kind zu einem anderen sagte: Guck mal, das ist ja ein Roboter! Also auch kein richtiger Mensch«, sagte Frau Hellmann.
»Ach, und ich hätte gedacht, so jemanden würden die Kinder als Pirat bezeichnen«, sagte Charlotte und lachte.
»Na ja, nach Holzbein sah diese Hightech-Prothese nun wirklich nicht aus.« Die Leiterin schmunzelte.
Nachdenklich verließ Charlotte den Kindergarten. Einen König konnte sie bei der Suche nach Klausi wohl ausschließen. Es sei denn, er war jemand, der sich als König verkleidete. Ein Schauspieler vielleicht oder ein Straßenkünstler. Oder es war jemand, den man nur in einer markanten Uniform sah. Ein Feuerwehrmann oder ein Soldat.
Als Charlotte wieder im Auto saß, fiel ihr plötzlich ein, dass es viele Diabetiker gab, die wegen ihres Leidens einen Fuß oder sogar ein Bein verloren hatten. Was war, wenn diese Tanja gar nicht selbst Diabetikerin war, wie sie es immer angenommen hatten? Was, wenn einer ihrer nächsten Angehörigen unter dieser Krankheit litt? Jemand, der vielleicht ein Bein verloren hatte und den Tanja irgendwann einmal zusammen mit Ben besucht hatte?
Charlotte fuhr zum Präsidium. Sie mussten unbedingt herausfinden, ob es eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Diabetikern gab. Und ob dort vielleicht jemand war, der Tanja kannte.
»Mama?«, rief Katrin, als sie die Haustür aufschloss. »Bist du da?«
Sie hängte ihre dünne Jacke an die Garderobe und musterte sich im Spiegel. Sie hatte abgenommen. Um die Augen herum hatte sie Falten bekommen, und ihre Nase war spitzer als sonst. Sie seufzte. Gerade jetzt sollte sie eigentlich zunehmen. Im Profil betrachtete sie ihren Bauch, dem man noch nichts ansah von seinem kleinen Bewohner. Sie strich über ihren Unterleib und hoffte, dass wenigstens dort die Welt noch in Ordnung war.
Katrin ging in die Küche. Ihre Mutter saß am Tisch und schälte Kartoffeln.
»Was soll das werden?«
»Rheinischer Kartoffelkuchen«, sagte ihre Mutter, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Katrin sah auf
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