Schattenfreundin
milchigen Licht der nackten Glühbirne entdeckte sie einen alten zweitürigen Schrank, daneben eine Wickelkommode und einen mannshohen Spiegel, der über die Jahre hin blind geworden war. Am anderen Ende des Speichers stand eine Holztruhe, die schon arg von Holzwürmern zerfressen war. Außerdem zählte Katrin mindestens zwanzig Kisten und Kartons.
Sie wischte sich eine Spinnwebe aus dem Gesicht und überlegte, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Als Erstes sah sie sich die Kartons an. Zum Glück waren die meisten beschriftet. Babykleidung stand darauf oder Skiausrüstung oder Nesthäkchen – alle Bände . Sie musste schmunzeln. Mein Gott, wie hatte ihre Mutter diese Bücher geliebt! Und wie enttäuscht war sie gewesen, als Katrin sich nicht dafür begeistern konnte. Sie suchte weiter. Eine Kiste mit der Aufschrift Praxisunterlagen konnte sie nirgendwo entdecken.
Einen Augenblick lang war sie versucht, den Karton mit der Babykleidung zu öffnen, aber dann ließ sie es sein. Es waren die Sachen, die Leo in seinen ersten Lebensmonaten getragen hatte. Nach dem Umzug hatte Katrin sie bei ihren Eltern untergestellt. Die Vorstellung, seine kleinen Höschen und Hemdchen in die Hand zu nehmen, trieb ihr sofort Tränen in die Augen. Unwillkürlich strich sie über ihren Bauch. Wie wenig sie sich um ihr Ungeborenes kümmern konnte …
»Hoffentlich schadet dir der ganze Kummer nicht«, sagte sie leise.
Dann holte sie tief Luft und zwang sich, die traurigen Gedanken zur Seite zu schieben. Sie ging zu der alten Holztruhe und versuchte, sie zu öffnen. Nur mühsam ließ sich der schwere Deckel anheben, und fast wäre er Katrin wieder aus der Hand gefallen, als sie den Inhalt sah. Eng zusammengepresst steckten die Plastiktüten mit der ausrangierten Kleidung darin, die sie ihrer Mutter für die Kleiderkammer der Kirchengemeinde gebracht hatte.
Warum hatte sie die hier aufbewahrt? Wahrscheinlich schon seit längerer Zeit, weil es so viele Tüten waren. Es sah so aus, als hätte ihre Mutter seit Jahren keine Sachen mehr weitergegeben oder zumindest einen großen Teil davon hierbehalten. Hatte sie vielleicht die Kleidungsstücke, die ihr peinlich waren, zurückgehalten? Schließlich hatte ihre Mutter früher immer etwas auszusetzen gehabt an den Sachen ihrer Tochter. Sie fand Katrins kunstvoll zerrissene Jeans geradezu asozial und ihre Nietenjacke schrecklich. Aber sollte sie wirklich nur die ordentlichen Bundfaltenhosen und die züchtigen Blüschen weitergegeben haben? Das wäre doch absurd!
Kopfschüttelnd machte Katrin die Truhe wieder zu. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihre Mutter darauf ansprechen.
Aber jetzt wollte sie erst einmal die Akten finden. Vielleicht waren sie ja im Schrank. Als sie die Türen öffnete, drang ein lautes Quietschen durch die Stille.
»Na bitte«, sagte sie. Vor ihr stapelten sich die Unterlagen aus der Praxis.
Leider hatte ihr Vater die Akten aus den von Margarethe Brenner nach Jahrgängen sortierten Kartons herausgenommen. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als sich jede Akte einzeln vorzunehmen.
Katrin hob den ersten Stapel heraus. Da sie nicht ausschließen konnte, dass Tanja auch gelogen hatte, was ihr Alter anging, wollte sie alle Akten der Patientinnen durchsehen, die zwischen 1972 und 1976 geboren worden waren. Irgendwann in diesem Zeitraum musste Tanja zur Welt gekommen sein.
Wenig später hatte sie mehr als fünfzig Akten zusammengesucht. Mühsam schleppte sie den Stapel die schmale Treppe hinunter und brachte ihn in das ehemalige Arbeitszimmer ihres Vaters. Dort hatte sie mehr Licht, und es war bequemer. Sie ahnte schon, dass ihre Suche länger dauern würde.
Sie betrachtete den dicken Stapel und dachte nach. Wonach sollte sie eigentlich suchen? Und womit sollte sie anfangen?
Katrin nahm sich ein Blatt Papier und machte sich Notizen. Übergewicht war ein Kriterium, entschied sie, auch wenn Tanja damals natürlich schlank gewesen sein könnte. Auch erinnerte Katrin sich daran, dass Tanja von ihren PMS-Problemen erzählt hatte. Also schrieb sie unter Übergewicht das Stichwort PMS . Zusätzlich wollte sie nach einer Diabetikerin Ausschau halten. Immerhin gab es ja genügend Anzeichen, dass Tanja selbst zuckerkrank sein könnte.
»Dann wollen wir mal«, sagte Katrin zu sich und nahm die erste Akte. In diesem Augenblick rief ihre Mutter: »Das Essen ist fertig!«
Es war still geworden. Endlich. Sie mochte die abendliche Stille, wenn sie nur noch das Rauschen der
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