Schattenfreundin
Bäume hörte, wenn ihre Äste sich im Wind hin und her bewegten. Sie löschte das Licht, setzte sich in den bequemen Sessel ans Fenster, trank einen Schluck von ihrem süßen Ingwertee und sah hinauf in den dunklen Himmel. Unzählige Abende hatte sie so schon verbracht. Abende, an denen sie nichts anderes getan hatte, als hinauf in den Himmel zu schauen und Ingwertee zu trinken. Lange hatte sie darüber nachgedacht, wie sie Rache nehmen könnte, hatte einen Plan nach dem anderen gemacht und alle wieder verworfen. Doch dann, eines Abends, hatte sie plötzlich gewusst, was sie tun wollte, was sie tun musste . Drei Jahre lag es nun zurück, dass sie Leos Geburtsanzeige in der Zeitung gelesen hatte. Sofort hatte sie angefangen, an ihrem Plan zu arbeiten.
Ihr Blick fiel auf die Schachtel, die neben ihr im Bücherregal lag und in der die letzte Erinnerung an ihre Freundin ruhte. Sie stellte die Tasse auf die Fensterbank, zog die Schachtel hervor und öffnete sie. Vorsichtig nahm sie ihn heraus und strich zärtlich über die glatte Rundung. Dann drückte sie ihn an ihre Brust. Und als sie die Augen schloss, spürte sie, wie nah ihr die tote Freundin immer noch war.
Ja, sie hatte richtig gehandelt.
Sie öffnete die Augen, legte ihn behutsam zurück in die Schachtel und stellte sie zurück ins Regal. Sie zog die Decke über ihre Knie und nahm die Tasse wieder in die Hand. Wie angenehm warm sie war! Es war kälter geworden. Womöglich würde sie doch noch die Heizung einschalten müssen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an seine kalten Hände denken musste. Es wird nicht wehtun, hatte er zu ihr gesagt und dabei gelächelt. Doch was dann passiert war, war furchtbarer gewesen als ihre schlimmsten Albträume. Stundenlang hatte sie gehofft, dass der Tod sie erlösen würde von ihren Qualen, sie hatte gebetet und gefleht, er möge endlich kommen. Aber er war nicht gekommen. Der Tod hatte sie im Stich gelassen.
Sie musste lächeln. Das war damals gewesen. Jetzt war alles anders. Der Tod war ihr Verbündeter geworden. Er gehorchte ihr. Er kam, wenn sie ihn rief.
Und bald würde sie ihn wieder rufen.
Charlotte hatte noch eine Stunde Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Bernd im Papageno . Sie duschte, wusch sich die Haare, und dann stand sie eine ganze Weile nackt vor dem Kleiderschrank. Was sollte sie anziehen? Eigentlich war sie nicht der Typ Frau, der sich Stress machte wegen des richtigen Outfits für ein Abendessen mit einem Mann. In einer Jeans und einem schlichten Top fühlte sie sich immer am wohlsten. Aber für heute Abend kam ihr das irgendwie nicht angemessen vor. Das Papageno war ein edles und angesagtes Restaurant, außerdem wollte sie heute wirklich gut aussehen. Für Bernd?, fragte eine innere Stimme hinterhältig. »Quatsch!«, sagte sie laut. »Nicht für Bernd! Für keinen Mann auf der Welt! Nur für mich …« Sie sah ihr entschlossenes Gesicht im Spiegel und musste plötzlich lachen. Schließlich entschied sie sich für eine schwarze Marlene-Dietrich-Hose und einen kurzärmeligen schwarzen Rollkragenpullover.
»Die sind bekannt für ihren fantastischen Seeteufel. Kann ich nur empfehlen«, sagte Bernd und gab Charlotte die Speisekarte. »Dazu sollten wir Weißwein trinken.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke. Für mich nur Wasser. Ich trinke keinen Alkohol.«
Er sah sie überrascht an. »Nie?«
»Ich habe gerne einen klaren Kopf.«
»In jeder Situation?«
»In jeder.«
Bernd schien nicht zu wissen, was er darauf erwidern sollte. Irritiert sah er in die Speisekarte. Sie seufzte leise. »Entschuldige. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Schon gut«, sagte er, ohne aufzusehen.
Eigentlich hatte sie keine Lust, das Thema »Alkohol« zu vertiefen. Aber sie wollte Bernd auch nicht vor den Kopf stoßen. »Meine Mutter war Alkoholikerin«, sagte sie schließlich.
Er sah auf. »Jetzt muss ich mich entschuldigen. Das wusste ich nicht. Tut mir leid …« Charlotte versuchte ein Lächeln. Dann sahen beide wieder in ihre Speisekarten.
Charlotte genoss den Abend. Der Seeteufel war wirklich fantastisch, Bernd hatte nicht übertrieben, und sie fühlte sich so unbeschwert und leicht wie lange nicht mehr. Bernd war, wie sie erfuhr, Lehrer an Münsters Vorzeigegymnasium, dem Paulinum , er liebte seinen Job, und die Schüler achteten ihn wegen seines unermüdlichen Engagements.
»Aber es ist keine leichte Arbeit«, sagte er und wurde auf einmal ernst. »Du meinst, alles läuft gut, und plötzlich
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