Schattenfreundin
Bei Eltern oder Geschwistern ist die Bereitschaft wesentlich höher, jegliche Verantwortung abzugeben, als bei leiblichen Kindern.«
»Die Täterin hat also wahrscheinlich ein schwerkrankes Kind und entführt Leo, weil sie dadurch ein zweites, gesundes Kind hat …?«
»Vielleicht«, sagte Charlotte.
Jetzt schüttelte Peter den Kopf. »Das passt nicht«, sagte er nachdenklich. »Warum dann die Fixierung auf die Ortrups? Warum hat sie sich nicht den kleinen Ben geschnappt? Den hätte sie viel leichter entführen können. Und warum hat sie dann Franz Wiesner umgebracht?«
»Weil Tanja in Franz Wiesner oder sogar in Leo den Verantwortlichen für das Leiden ihres Sohnes sieht.«
»In einem dreijährigen Jungen?«, zweifelte Peter.
»In den Augen der Täterin. Du musst das Ganze aus ihrem Blickwinkel sehen. Also: Wir wissen, es gibt einen Klaus, und wir müssen davon ausgehen, dass er schwer krank ist. Ich gehe zwar davon aus, dass dieser Klaus ihr Sohn ist, aber beziehen wir vorsichtshalber auch ihren Mann oder sogar ihren Vater in unsere Überlegungen mit ein.«
»Okay.«
»Da Tanja wochenlang das Kindermädchen für Ben gespielt hat und sich nicht um ihren Verwandten, ob Sohn oder Ehemann oder Vater, kümmern konnte, müssen wir davon ausgehen, dass dieser Klaus in irgendeiner Einrichtung lebt«, sagte Charlotte. »Das heißt, wir müssen alle Einrichtungen durchchecken, in denen er wohnen könnte. Und zwar alle in und um Münster und Osnabrück.«
Käfer nickte. »Das klingt nach einem Ansatzpunkt. Und da wir nicht wissen, wie alt Klaus ist, heißt das: alle Seniorenheime, Kinderheime, Behindertenheime …«
»… betreutes Wohnen, Hospize und wohl auch die Krankenhäuser«, fuhr sie fort.
»Ohne zu wissen, wie der Kerl aussieht und ob er nicht doch in einer eigenen Wohnung lebt und von einem ambulanten Pflegedienst betreut wird …« Käfer seufzte.
»Du hast recht, die Pflegedienste sollten wir auch abklappern.«
»Meine Herrn, weißt du, wie viele das sind?«
»Nein«, sagte Charlotte. »Aber reg dich nicht auf, du musst ja nicht alle persönlich abtelefonieren.«
»Na, die Kollegen werden sich freuen.«
Sie fuhren auf die Autobahn. Gott sei Dank war wenig los, sodass sie schnell vorwärtskamen.
»Sie sollen sich als Erstes die Einrichtungen vornehmen, die im Wald liegen oder in einem großen Park«, sagte Charlotte. »Vielleicht können wir die Suche so ein bisschen eingrenzen.«
Sofort als sie wieder im Präsidium waren, setzte Peter sich ans Telefon. Wenig später hielt er Charlotte einen Zettel hin.
»Was ist das?«, fragte sie. Auf dem Zettel stand eine endlos lange Nummer.
»Eine Telefonnummer. Aus Astrachan«, antwortete er. »Und jetzt rate mal, von wem!«
Charlotte zuckte mit den Achseln. »Astrachan? Wo soll das sein? In Russland?«
Käfer nickte. »Am Kaspischen Meer. Und wer wohnt da wohl? Na?«
»Sorry, aber ich versteh nur Bahnhof.«
»Elena und Boris Rustemovic!«
»Die Eltern von …?«
»Von Beerchen! Richtig!«
Charlotte nickte anerkennend. »Sehr gut.«
»War gar nicht so schwierig.« Peter grinste. »Dank an die Meldebehörden. Manchmal ist unsere Bürokratie halt doch für was gut.«
»Kannst du Russisch?«
»Nein.«
»Dann wollen wir mal hoffen, dass die beiden ihr Deutsch nicht ganz vergessen haben«, sagte Charlotte und wählte die Nummer. Sie stellte den Lautsprecher an, damit ihr Kollege das Gespräch mitverfolgen konnte.
In der Leitung knackte es ein paar Mal, dann folgte ein lautes Rauschen, bevor schließlich das Freizeichen erklang. Am anderen Ende meldete sich eine raue Frauenstimme. »Allo?«
»Spreche ich mit Frau Elena Rustemovic?«
Die Frau zögerte. »Ja.«
»Hier spricht Charlotte Schneidmann von der deutschen Kriminalpolizei in Münster. Können Sie mich verstehen?«
Wieder konnte sie nur ein Rauschen hören, und Charlotte befürchtete schon, dass die Verbindung unterbrochen war.
»Ja«, sagte die Frau schließlich. »Was wollen?«
»Es geht um Ihre Tochter Annabell …«
»Annabell tot.«
»Das wissen wir«, sagte Charlotte. »Können Sie uns sagen, warum Ihre Tochter sich damals das Leben genommen hat?«
Aus dem Hörer drang ein leises Schluchzen.
»Frau Rustemovic«, sagte Charlotte sanft. »Ich weiß, dass das schmerzhaft ist für Sie …«
»Einziges Kind …« Elena Rustemovic weinte.
»Ich weiß. Es tut mir sehr leid. Aber es ist wichtig, dass Sie uns sagen, was damals passiert ist.«
Das Weinen wurde leiser.
»Warum hat Ihre
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