Schattenfreundin
Patientenakten herumgesucht, aber das hatte nicht viel gebracht. Die vielen medizinischen Kürzel zu entschlüsseln war schwieriger, als sie sich vorgestellt hatte. Zum Glück stand das Lexikon medizinischer Begriffe auf dem Schreibtisch ihres Vaters. Dennoch war es mühsam gewesen, sich durch den Fremdwörterdschungel zu kämpfen. Mühsam, aber auch erholsam, weil es sie ablenkte. Es war einfach ein gutes Gefühl, endlich etwas tun zu können, endlich aktiv an der Suche nach Leo beteiligt zu sein.
Sie war nur schnell losgefahren, um sich ein paar Sachen von zu Hause zu holen, ein paar dünne Sommerkleider und ihre Kosmetik, die sie vergessen hatte einzupacken, als sie nach Thomas’ Beichte fluchtartig das Haus verlassen hatte. Nein, versöhnen wollte sie sich nicht mit ihm, dazu war zu viel passiert, aber sie wollte ihm erzählen, was sie von Margarethe Brenner erfahren hatte und dass sie die alten Praxisunterlagen durchforstete. Wenn er überhaupt da war und nicht bei der Arbeit.
Auf alle Fälle wollte sie in Leos Zimmer gehen, wollte seinen Geruch einatmen und seine Kuscheltiere an sich drücken. Er fehlte ihr so sehr, dass ihr ganzer Körper schmerzte, wenn sie nur an ihn dachte. Und sie tat ja nichts anderes.
Ein Verkehrspolizist ging die Straße entlang, und sofort spürte Katrin ein mulmiges Gefühl im Magen. Ob er zu ihnen wollte? Ob er ihnen die schreckliche Nachricht überbringen wollte, dass Leo …?
»Es ist nur ein Verkehrspolizist«, sagte sie laut zu sich. »Leo lebt! Vergiss das nie!«
Sie riss sich zusammen, parkte ihren Wagen vor dem Haus und stieg aus. Seltsam, das Küchenfenster stand offen, und irgendwelche Stimmen drangen nach draußen. War das der Fernseher?
Sie sah auf die Uhr. Kurz vor zwei. Sie ging zum Haus, schloss die Tür auf und trat in den Flur.
»Thomas?«, rief sie. Zögernd blickte sie sich um. Wie sah es denn hier aus? Thomas’ Jacke lag auf dem Boden, seine Schuhe standen mitten im Weg, seine Tasche war umgefallen, sein Handy lugte darunter hervor.
Vorsichtig ging Katrin ins Wohnzimmer. Thomas lag auf dem Sofa und schlief, in der Hand eine offene Packung Frühlingsquark. Im Fernseher dröhnte irgendeine Nachmittagssoap. Katrin griff zur Fernbedienung, die neben Thomas auf dem Sofa lag, und schaltete ihn aus.
Auf dem Couchtisch standen mehrere Weinflaschen, leere Chipstüten lagen auf dem Boden, es stank nach Alkohol und Zwiebeln. Katrin riss das Fenster zum Garten auf und ließ frische Luft herein.
»Thomas?«
Er reagierte nicht.
Sie ging zu ihm, kniete sich neben ihn und rüttelte ihn sanft an der Schulter. »Thomas, was ist passiert? Thomas!«
Im Halbschlaf stieß er ihren Arm weg. »Pack mich nicht an!«, knurrte er mit schwerer Zunge.
»Thomas!«, sagte Katrin laut.
Er schlug die Augen auf und sah sie erschrocken an.
»Ach, du bist das …«, sagte er und rappelte sich auf. »Entschuldige.«
Katrin runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Hast du jemand anderen erwartet?«
»Nein, nein!«, sagte Thomas schnell. »Ich bin nur so überrascht … Schön, dass du gekommen bist.« Er setzte sich auf, stellte die Packung Frühlingsquark auf den Tisch und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Katrin sah ihn an. »Du bist tatsächlich zuhause und nicht bei der Arbeit.«
»Ich … ich konnte nicht. Ich habe es versucht, aber es ging nicht. Und dann habe ich wohl ein bisschen viel getrunken. Das ist alles.«
Sie setzte sich neben ihn. Auf einmal empfand sie großes Mitleid mit ihm. Was war nur aus ihm geworden? Thomas … immer voller Tatendrang, immer kontrolliert, immer hochkonzentriert, kein Typ, um den man sich Sorgen machen musste.
Das hatte Katrin immer geglaubt.
Ihn so zu sehen, hilflos und aufgelöst, mit der jämmerlichen Hoffnung, seinen Kummer in Rotwein ertränken zu können, brach ihr fast das Herz. Sie nahm seine Hand und drückte sie.
»Es tut mir so leid«, sagte er und schluckte.« Du hast mir nicht mehr vertraut … und wahrscheinlich zu Recht.«
Katrin schüttelte den Kopf. »Die Sache mit den anderen Frauen war gar nicht das Problem …«
Thomas nickte. »Ich weiß. Ich hätte dir nicht die Schuld geben sollen. Das hat dich sehr verletzt.«
Katrin schwieg.
»Ich habe es gar nicht so gemeint. Das musst du mir glauben. Ich war so verzweifelt …«
»Egal, wie du es nennst, du hast geglaubt, ich hätte mit der Sache zu tun, und das hat mich tief getroffen«, sagte Katrin und holte tief Luft. »Aber wir müssen jetzt trotzdem
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