Schattenfreundin
Tochter sich damals umgebracht?«, fragte Charlotte noch einmal. »Hat sie vielleicht einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Nein. War so traurig. Hat immer nur geweint. Mein Mann hat geschimpft, hat gesagt, sie eine schlechte Mensch … Hat sie bestraft, weil sie Schande gemacht der ganzen Familie. Annabell immer so traurig … Traurigkeit sie umgebracht …«
»Warum war Annabell denn so traurig?«
Frau Rustemovic fing wieder an zu weinen. »Hatte sich verändert. War schlechter Mensch geworden …«
»Schlechter Mensch? Hatte sie was angestellt?«
Frau Rustemovic antwortete nicht.
»Sind Sie noch dran? Bitte, Frau Rustemovic, wir müssen das wissen!« Sie sah zu Käfer und zog die Augenbrauen hoch. »Ein Kind ist entführt worden. Wir können es nur dann finden, wenn Sie uns helfen!«
»Ein Kind …« Frau Rustemovic räusperte sich. »Annabell mit Männer eingelassen, mit viele Männer. War Schande für die ganze Familie …« Das Schluchzen wurde wieder lauter.
Charlotte seufzte. Offensichtlich hatte Annabell Rustemovic ein Leben geführt, das nicht zu den traditionellen Wertvorstellungen ihrer Eltern passte. Aber hatte sie sich deshalb umgebracht? Charlotte konnte sich das nicht vorstellen.
»Hat Schande gemacht …«, wiederholte Frau Rustemovic in diesem Augenblick.
Charlotte bedankte sich bei Annabells Mutter für deren Hilfe und legte auf. »Mehr kriegen wir nicht raus aus ihr«, sagte sie enttäuscht.
»Und jetzt?« Peter sah aus dem Fenster.
Charlotte überlegte. Schande … Warum hatte die Mutter das so oft gesagt?
Plötzlich wusste sie, was es bedeutete: Annabell war schwanger gewesen. Deshalb hatte sie sich das Leben genommen. Vielleicht hatte der Vater des Kindes sie sitzen lassen? Oder Annabell war vergewaltigt worden? Aber wer war der Vater? Thomas Ortrup? Oder Franz Wiesner? Oder gar dieser Klaus?
Nein, Klaus konnte es nicht gewesen sein. Alles deutete darauf hin, dass er schwerkrank war und gar nicht fähig, körperliche Gewalt auszuüben.
Sie trank einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die immer auf dem Schreibtisch stand.
Tanja, Annabell und Klaus … Irgendetwas verband die drei Personen miteinander. Hatten sie vielleicht gemeinsam etwas Schreckliches erlebt? Etwas, das sie für immer zusammenschweißte? Etwas, das mit Franz Wiesner und den Ortrups zu tun hatte?
Charlotte seufzte. Das Bild von Tanja und von Annabell wurde immer klarer, aber dieser Klaus blieb im Dunkeln. Was sie auch anstellte, es bildeten sich keine Konturen heraus. Die Spurensicherung hatte im Haus der Wiesners keine unbekannte DNA gefunden, Klaus war vermutlich nie dort gewesen. Dennoch war er der Schlüssel zur Lösung des Falls. Das spürte sie ganz deutlich.
»Wir müssen noch mal mit Thomas Ortrup reden. Vielleicht war da ja doch was zwischen ihm und Annabell. Ich bin sicher, sie ist schwanger gewesen und hat sich aus lauter Scham umgebracht. Nicht umsonst hat ihre Mutter so oft das Wort Schande benutzt.«
Er nickte. »Das übernehme ich. Wir sollten aber auch mit Luise Wiesner sprechen. Genauso gut könnte auch ihr verstorbener Mann was mit Annabell gehabt haben. Vielleicht schweigt die Witwe darüber, weil sie Klatsch und Tratsch fürchtet …«
»Du hast recht«, sagte Charlotte nachdenklich. »Ich bin sicher, es gibt eine Verbindung zwischen Tanja, Annabell und der Familie Ortrup beziehungsweise Wiesner. Ich rede mit Luise Wiesner.«
Die Wäsche lag auf ihrem Bett, fein säuberlich nach Farben geordnet.
Hatte sie auch an alles gedacht? Am Wasser konnte es kalt sein, vor allem gegen den Wind brauchte sie Schutz. Sie wollte auf keinen Fall zum Arzt gehen. Die ersten Wochen sollten so unauffällig wie möglich ablaufen.
Am Morgen hatte sie die letzten wichtigen Dinge geregelt. Sie hatte mit dem netten Herrn Lichter gesprochen und ihm alles über die bevorstehende Reise erzählt. Natürlich glaubte er, dass es sich nur um einen zweiwöchigen Urlaub im sonnigen Süden handelte, sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass sie ans Kaspische Meer reisen wollte und nie wiederkommen würde.
Sie packte die Dokumente zusammen, die Annabell ihr damals gegeben hatte und die sie als Besitzerin der kleinen Datscha auswiesen. Karte, Schlüssel und Wörterbuch legte sie dazu. Genügend Geld hatte sie auch.
Ihr Blick flog über die Spritzen und Ampullen, die neben den Kleidungsstücken lagen. Dummerweise waren die bestellten Medikamente noch nicht da. Ohne die konnten sie nicht fahren. Ohne einen
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