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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Rätsels Lösung gefunden, wenn auch mit einiger Mühe. Wie dem Küster ging es ebenso dem Kirchenvorstand, der einfach das tat, was viele Mächtige in einem solchen Falle machen: Ignorieren und zum alltäglichen Einerlei zurückkehren.
    In den Anblick der Uhr vertieft, bemerkte der Alte nicht, wie sich eine Gestalt an ihm vorbei schob und hinter einer kaum sichtbaren Tür neben der Uhr verschwand. Hätte der Küster heute nicht wegen der elenden Überstunden anlässlich des Tags der offenen Tür eine so betäubend schlechte Laune gehabt, wäre ihm aufgefallen, dass die Gestalt schon längere Zeit bewegungslos in der Nische einer benachbarten Kapelle gestanden hatte.
    Halblaut über die Schlechtigkeit der Welt brabbelnd, fischte der Alte seinen schweren Schlüsselbund aus der Hose, suchte zielsicher den richtigen Schlüssel heraus und öffnete umständlich die unscheinbare Tür, durch die kurz vorher die geisterhafte Gestalt mühelos verschwunden war. Normalerweise quietschten alte Kirchentüren. Diese jedoch hatte man genauso gut geölt wie den gesamten Mechanismus der Astronomischen Uhr.
    In den kleinen Raum, der der Wartung der Uhr diente, drang nur spärliches Licht. Das Geräusch langsam mahlender Zahnräder und schwer tickender Pendel durchströmte das Kabinett. Sicherlich war es nicht ungefährlich, sich hier ohne Taschenlampe und ohne Kenntnis des Mechanismus zu bewegen.
    Dem Küster machte das alles nichts aus. Schließlich kannte er den engen Raum. Jede kleine mechanische Bewegung war ihm vertraut. Er liebte den schwerfälligen Rhythmus der Zeit, der den Rhythmus der Unendlichkeit widerspiegelte. Wäre er etwas gebildeter gewesen, wäre ihm sicherlich aufgefallen, wie merkwürdig es ist, dass selbst die Unendlichkeit des Himmels nicht ohne den Puls der Zeit auskommt.
    »Hast du jetzt endlich alles zusammen?«
    Die kalte, monotone Stimme passte gut in diese Atmosphäre der Zeitlosigkeit. Sie entstammte der Gestalt von vorhin. Obwohl sie sich im Dunkeln der Pendelachsen aufhielt, waren ihre Augen doch klar zu erkennen.
    Dem Küster fröstelte. Die schlechte Laune wich einem tiefen Angstgefühl, Alarmglocken klingelten in seinem Kopf. Draußen schlug die Turmuhr sechs. Er warf der Gestalt ein Bündel Papier zu, das er die ganze Zeit sorgfältig unter seinem Arbeitskittel verwahrt hatte.
    »Jetzt sind die Unterlagen fast vollständig. Mir fehlen nur noch ein paar Recherchen. Ich hab mein Bestes gegeben, aber an die alten Dokumente aus dem Kirchenarchiv kommt man ohne Genehmigung nur sehr schwer heran …«
    »Jammer nicht! Morgen um diese Zeit will Er alles haben! Mach deine Arbeit ordentlich, sonst wird Er wirklich von dir dein Bestes verlangen, nämlich dein Leben!«
    Ein makaberes, blechern schepperndes Lachen erfüllte die kleine Wartungsbude. Die Gestalt verschwand so schnell zwischen den Gestängen der Astronomischen Uhr, dass dem Küster keine Zeit für Ausreden blieb. Wieder hörte man nur das gleichmäßige Ticken, Surren und Rumpeln des alten Mechanismus. – Plötzlich wusste der Küster, was er zu tun hatte.
    Wie es seine Art war, brabbelte er, wenn er intensiv grübelte, laut vor sich hin. Die vielen Nachforschungen, die er aufgrund der gezielten Befehle des Unbekannten im Archiv anstellen musste, ließen nur einen Schluss zu. Man müsste, um sicherzugehen, aber noch einmal den Blick von da ganz oben wagen, dachte er sich. Wenn das stimmte, was er vermutete, konnte er, wenn er sein Wissen geschickt an den Mann brächte, durch Erpressung bald ein Vermögen besitzen.
    Er begab sich eiligen Schrittes in die entgegengesetzte Ecke der Kirche, öffnete eine versteckte Tür und stieg ächzend und langsam die vielen Stufen zum Deckengewölbe hinauf. Weil das für ihn mühselig war, merkte er nicht, dass ihm jemand folgte. Sein unseliges Selbstgespräch unterbrach er trotz der Anstrengungen nicht, denn schließlich musste er jetzt sehr genau nachdenken.
    Die schmale Stiege führte ihn an staubigen Mauernischen und verborgenen Seitenräumen vorbei, in denen sich manches Gerümpel aus alten Zeiten angesammelt hatte. Es schien, als läge hier Schutt von Generationen bereit, um im Schoße der Kirchenmauern die Ewigkeit zu erleben.
    In einem kleinen Erker ruhte ein verstaubter Engel mit einem abgebrochenen Flügel neben einem Haufen niedergebrannter, verrußter Kerzenstummel. Ein zerbeulter Kronleuchter verhüllte sich mit einem dichten Netz von Spinnweben. Irgendwo fristete ein Stapel abgegriffener und

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