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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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den kaum einer wirklich kannte, hatte heute noch schlechtere Laune als üblich. Das kleine Mädchen mit den auffällig neugierigen Mandelaugen, das die überdimensionale Astronomische Uhr in der Marienkirche einmal von ganz nahe anschauen wollte, wich erschrocken zurück. Seine Eltern blickten den Mann verständnislos an. Schließlich war doch Tag der offenen Tür.
    »Nun übertreiben Sie mal nicht! Die Kleine wollte doch nur …«
    »Das kennen wir: Alle wollen doch nur mal … Und ich hab dann das Nachsehen. Mache ohnehin Überstunden, und dann muss ich am Ende auch noch alles wieder hinbiegen, was die Gören kaputt gemacht haben.«
    Die Eltern hatten keine Lust, sich mit dem schrulligen Alten zu streiten, nahmen das Mädchen an die Hand und verschwanden wortlos. Der Küster brummelte noch eine Weile halblaut vor sich hin, trat dann aus dem Halbschatten heraus und blickte missmutig um sich.
    Endlich begann sich der Besucherstrom zu lichten. Der Aushilfsorganist, der oben auf der Totentanzorgel gelangweilt zum x-ten Male die d-Moll Toccata abspulte, hörte mitten im Stück einfach auf und klappte geräuschvoll den Orgeltisch zu. Für eine geistreiche Kadenz fehlte ihm heute der Sinn. Und ausgerechnet der verminderte Septakkord hallte in dem riesigen Kirchenschiff minutenlang wie eine Feuerwehrsirene nach. Das allgemeine Gemurmel und Getrampel ebbte langsam ab. Irgendwo klingelte ein Handy. In der hohen Kirchenhalle hörte sich die billige Plastikmelodie an wie das Donnern der Trompeten von Jericho.
    »Kein Respekt mehr heutzutage!«, schnaufte der Küster wütend. Eine junge Frau, die zufällig vorbeikam, bezog den Tadel auf sich, errötete und knöpfte, sich ihrer mangelnden Demut schämend, flink die durchaus gewagte Bluse bis zum obersten Knopf zu. Schnell machte sie eine knappe Verbeugung in Richtung Mutter Maria und bekreuzigte sich eilfertig. Damit wollte sie sichergehen, dass ihr die Absolution auch für ihre zukünftigen Sünden erteilt würde.
    Nachdem auch diese lästige Besucherin verschwunden war, nahm sich der Küster Zeit, die Astronomische Uhr in Ruhe zu mustern. Es handelte sich nicht um eine herkömmliche Uhr, wie beispielsweise seine billige Taschenuhr, die nur die momentane Zeit wiedergab. Die in dem schlichten Holzrahmen untergebrachten Kalenderscheiben informierten den Betrachter über Gegenwart und Vergangenheit und reichten sogar weit in die Zukunft hinein. Sie zeigten Tag, Monat, Sonnen- und Mondstand, die Tierkreiszeichen, das Osterdatum und die Goldene Zahl an.
    Von jeher bewegten sich zu jeder vollen Stunde Figuren zum Glockenspiel. Ursprünglich stand Jesus in der Mitte, umrahmt von den zwölf Aposteln. Aus zwei seitlichen Türen erschienen Rotröcke, die mit einer Fiedel aufspielten. Die Apostel fingen daraufhin an zu tanzen, ohne dem Herrn die nötige Reverenz zu erweisen.
    Einer Sage nach soll eines Tages der Blitz in die Kirche eingeschlagen sein, weil der Fiedeltanz angeblich ein ›heidnisch Wesen‹ sei. Man ersetzte die zwölf Heiligen durch die sieben Kurfürsten und einen Schatzmeister, die sich allesamt vor dem Herrn verbeugten, außer dem Letzteren, der nur seinen Mammon verehrte. Statt der Fiedler erschienen Engel mit Posaunen. Nach einem erneuten Umbau grüßen nun Nachbildungen von Menschen unterschiedlicher christlicher Völker die Besucher der Lübecker Hauptkirche.
    Der Küster liebte das feinmechanische Wunderwerk, denn das sogenannte Planetarium ermöglichte ihm, der den überwiegenden Teil seines Lebens im Schatten dunkler Kirchenmauern verlebte, einen Blick in die Weite der Zeit zu werfen. Die Nachahmung des Laufes der Gestirne ließ ihn beim Betrachten für ein paar Augenblicke alles Irdische vergessen. Das unüberhörbare Ticken des überdimensionalen und komplizierten Räderwerks mahnte ihn, dass alle Menschen, also auch ein Küster, den kaum einer wirklich kannte, unter dem göttlichen Gesetz der Zeit lebten.
    Nicht durch Zufall wurde die Astronomische Uhr neben den Totentanzfenstern aufgestellt. Ein Lübecker Bischof behauptete einmal: »Zeit und Tod gehören zusammen.« Auf dem Holzrahmen an der Seite waren ungelenke Kritzeleien eingraviert: »Ny fotoana dia fifanakalozan’ny fiainana sy fahafatesana«.
    Immer wieder ärgerte sich der Küster, wenn er diese Hieroglyphen sah. Sie verunsicherten ihn, weil er sie nicht verstand. Ihm waren Computer, Internet und all dieser seiner Ansicht nach neumodische Kram völlig unbekannt, sonst hätte er durch Googeln des

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