Schattengold
Fund des Etikettendruckers gewesen. Aber unter den verglühten Resten der Brandruine konnte nichts dergleichen entdeckt werden. Ebenso erging es Kroll mit der Spurensuche nach der Kurzhaarperücke, von der die gewellten Kunsthaare stammten, sowie nach einem Anzug, dem die sichergestellten Wollfusseln zuzuordnen gewesen wären. Entweder befanden sie sich gar nicht im Hause Ampoinimera, oder aber sie waren restlos verbrannt.
Also schloss er seine Akte mit den Worten: ›Im Fall der »Zettelmorde« bleiben die genauen Tatumstände unbekannt. Als Erklärungsversuch bieten sich zwei Thesen an:
1. Schwerer Raubüberfall in Tateinheit mit Entführung der dreiköpfigen Familie Ampoinimera zwecks Lösegelderpressung. Dringend tatverdächtig wäre demnach der Uhrmachergeselle Raik Svavarson, der sich seither mit seiner Geliebten Aina Cortes auf der Flucht befindet. Da wir weder Beute im Hause seiner Mutter noch in der Brandruine sicherstellen konnten, nehmen wir an, dass er mit einer international operierenden Diebes- und Hehlerbande unter einer Decke steckt.
Mein Assistent Hopfinger bevorzugt diese These.
2. Die Morde und die Schmuckdiebstähle sind auf unbekannte religiöse oder weltanschauliche Motive des Uhrmachers und Goldschmieds Adrian Ampoinimera zurückzuführen. Vermutlich standen seine Frau Rana und sein Sohn Radamo als Komplizen an seiner Seite. Da auch der Geselle und seine Geliebte verschwunden sind, kann eine Mittäterschaft nicht ausgeschlossen werden.
Ich, Inspektor Kroll, Leiter der Regionalen Kriminalbehörde, bevorzuge die zweite These.
Die Brandursache bleibt ungeklärt. Die Experten konnten das Musikzimmer im ersten Stock als ursprünglichen Brandherd identifizieren. Da keine Brandbeschleuniger gefunden wurden, halten sie Brandstiftung für ausgeschlossen.
Jedenfalls konnten sich die Tatverdächtigen vorzeitig einer Verhaftung und den erforderlichen Verhören entziehen. Eine entsprechende Fahndung wurde ausgeschrieben.‹
Sie blieb ohne Erfolg.
Aus Ärger, dass er so kurz vor seinem Sieg gescheitert war, fing Kroll das aktive Rauchen wieder an.
Ausklang
Lieber Leser, liebe Leserin, dies war die Geschichte der Brandruine. Wenn Sie das nächste Mal nach Lübeck reisen, lassen Sie Ihr Navigationsgerät ruhig zu Hause. Kommen Sie einfach bei mir vorbei. Ich lade Sie zu einem Stadtrundgang ein. Dann kann ich Ihnen noch viel mehr über die verwinkelten Gänge und Höfe erzählen, über die Armenhäuser, die Salzspeicher, über die Museen, das Burgtor, die Stadtmauer mit dem alten Wehrturm und vieles mehr.
Natürlich auch über die Menschen mit ihren eigenwilligen Geschichten, über die Dichter und Künstler, die das kulturelle Bild der Stadt prägten oder über die Kinder, die die Gassen mit Leben füllen.
Die Brandruine wurde kürzlich beseitigt und machte einem modernen Hotelkomplex Platz, dessen Architektur so gar nicht in das Stadtbild passt. Aber es ist eben modern. Ein steinernes Denkmal für den mittelmäßigen Architekten, und es bietet dem Touristen allen Komfort.
Wie in jeder beliebigen Großstadt.
Aber zögern Sie nicht allzu lange mit Ihrem Besuch! Vieles ist äußerlich unverändert geblieben. Aber im Inneren, in der Seele der Stadt, bröckelt es immer mehr. Lübeck ist tief in den Schatten der Zeit eingetaucht. Sein kultureller Niedergang schreitet unaufhaltsam voran.
Die Flugverbindung nach Girona wurde inzwischen aufgrund sinkender Passagierzahlen aufgelöst. Das Ehepaar Sánchez-Ruiz wird wohl nicht mehr so schnell unsere Stadt besuchen.
Dem Rat gelang es, das Kommunale Kino, das die Zofe Ria so gern besuchte, aus Kostengründen fallen zu lassen. Jetzt steht es unter der privaten Leitung einiger engagierter Filmfreunde. Auch das unrentable Völkerkundemuseum konnte geschlossen werden. Angeblich wegen des mangelnden Besucherinteresses. Beide belasten jetzt nicht mehr den Säckel des Kulturetats. Die Frau des Oppositionsführers, Zuständige für den Kulturetat, war glücklich.
Und sie träumt von noch mehr.
Die Leitung der Musikhochschule hat sich dem internationalen Druck gebeugt, das Bologna-Modell von Bachelor und Master eingeführt, und damit das Niveau der Studiengänge an die Mittelmäßigkeit anderer Länder angeglichen. Kochrezeptausbildung und Verschulung statt selbstbestimmtem Lernen und Freiheit von Lehre und Forschung. Eigenwillige und hoch talentierte Studenten wie Aina werden in Zukunft rar sein.
Bald wird das alte Lübeck, so wie wir es lieben, vor
Weitere Kostenlose Bücher