SchattenGrab
hatten kaum Zeit. Das machte aber nichts, weil sie Sarah sowieso seit einiger Zeit wie ein merkwürdiges Insekt betrachteten. Mittlerweile steckten sie ihr nicht mal mehr ein paar Euros zu, weil sie die „Kriegsbemalung“, wie sie ihre Tattoos nannten, nicht unterstützen wollten. Sollte sie sich zum Entfernen einer Laserbehandlung unterziehen wollen, würden sie dies gerne finanziell begleiten, hatten sie zu ihr gesagt. Auf solche „Hilfe“ konnte sie auch pfeifen. Na ja, sie waren eh nicht ihre echten Großeltern.
Die einzig Coole in der Familie war Tante Toni. Sie war auch ein wenig aus der Art geschlagen und echt flippig. Man konnte sie auch anrufen, wenn man einen Rat brauchte. Wenigstens war sie nicht so eine konservative Tussi und hatte schon einiges erlebt. Das konnte man von ihrer echten Tante Sabine nicht behaupten und schon gar nicht von Onkel Magnus. Die hatten einen Stock im Arsch und bewegten sich nur in der feinen Gesellschaft. Und das alles bloß, weil sie vor Geld trieften. Elsa und Enno, die Kinder, waren schon genauso blöd. Wie ein Modepüppchen trippelte die sechzehnjährige Elsa auf ihren Hochhackigen herum. Immer ein Täschchen an der Seite und niemals ungeschminkt. Von Enno konnte sie nicht viel sagen, denn es gab nichts zu sagen. Der Spinner war total vergeistigt, schrieb nur Einsen und sprach kaum ein Wort. Wären die Zeugnisse nicht gewesen, hätte man ihn auch für den Dorftrottel halten können, denn was die Natur seiner Schwester beim Aussehen hatte zugute kommen lassen, das hatte sie bei Enno total vergessen.
Ihre kleine Schwester Sophie, Halbschwester um genau zu sein, war nun seit fünf Wochen verschwunden. Sie konnte gar nicht genau sagen, ob sie sie vermisste, denn sie sah sie ohnehin kaum. Manchmal war sie ganz putzig gewesen, aber meistens hatte sie total genervt, als Sarah noch zu Hause gewohnt hatte. Von Vermissen konnte man also nicht sprechen, aber sie dachte ab und zu an die Kleine und daran, wo sie wohl sein mochte.
Diese Gedanken waren allerdings flüchtig und beschäftigten sie nicht allzu sehr. Es gab wichtigere Dinge. Zum Beispiel, wann sie sich das nächste Tattoo leisten konnte, das sich Stück für Stück wie ein Fortsetzungsroman an jedem ihrer Arme hochziehenwürde bis zu einem grandiosen Finale auf der Rückenpartie. Ein lebendes Gemälde wollte sie werden, so bunt, wie sie in sich selbst war. Dafür jobbte sie abends im „Treibhaus“, einer gut besuchten Kneipe, die schon Generationen von Studenten gesehen hatte. Viele kamen später auch als Doktoren und Professoren immer noch hierher. Es war eine Kultkneipe. Fast so gut wie das „Minchen“ in Bückeburg. Dorthin ging sie immer mit Tante Toni, wenn sie mal in der Stadt war. Es war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen den beiden, ihre Abende im „Minchen“ zu verbringen. Hier hatte sie auch ihr großes Vorbild gesehen, Sabrina. Sie war ihr mit der Verzierung ihres Körpers weit voraus. Es gab nicht mehr viele Stellen mit blanker Haut. Mangas und andere Zeichnungen schmückten die Arme, das Dekolleté und bereits den Halsbereich. Auf den Rücken konnte Sarah nur teilweise spähen. So wollte sie auch sein. Einmalig, einzigartig und ein Schock für ihre gesamte Familie, bis auf Toni, die damit kein Problem hatte. Jeder solle auf seine Art glücklich werden, meinte sie. Dass sie es selbst nicht war, fiel weder Sarah auf noch Toni selbst.
Verena
Die Ermittler hielten sich inzwischen eher im Hintergrund. Nur die freundliche Psychologin, deren Team sie einmal wöchentlich besuchte, rief auch zwischendurch an. Manchmal sprachen sie über ganz belanglose Dinge oder über alte Geschichten aus ihrer Jugend. Verena vermutete, dass sie zwischen den Zeilen lesen wollte, ob es ihr einigermaßen gut ging. Das war irgendwie rührend, erreichte Verena aber dennoch nur wie durch einen Nebelschleier.
Dafür waren zum einen die Medikamente verantwortlich, die sie seit Kurzem bekam, zum anderen das nicht enden wollende Trauma. Es gab noch immer kaum Momente, in denen Sophies Fortsein nicht präsent war und keine Erleichterung von der bohrenden Qual der Ungewissheit.
Anfangs hatte es so viele Befragungen gegeben, dass sie im Nachhinein das Gefühl hatte, rund um die Uhr mit den Beamten gesprochen zu haben. Sie waren einund ausgegangen in ihrem Haus, hatten alles durchsucht, Fotos gemacht, Möglichkeiten besprochen. Ja, sie waren sehr sensibel vorgegangen. Trotzdem war es ein Eindringen in den innersten Bereich gewesen.
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