SchattenGrab
Bauerngärten liebte, konnte an diesem Ort nur ins Schwärmen kommen. Kaum jemand hätte gedacht, dass sich hinter den Jugenstilvillen solche Oasen verbergen könnten. Im Vergleich dazu war der Garten ihrer Schwester, der linksseits dieses Grundstücks lag, ein steril angelegter und langweiliger, kleiner Park. Zum Glück sah man ihn nicht, denn bei Marianne war alles üppig eingewachsen. Selbst das Verbindungstürchen wirkte verwunschen, als ob es vor hundert Jahren zum letzten Mal benutzt worden war. Das lag daran, dass nur die kleine Sophie dort gelegentlich und heimlich hindurchgeschlüpft war. Verena vermied den Kontakt mit ihrer Schwiegermutter und Friedhelm war meistens zu ihr gekommen. Aber wenn man sich besuchen wollte, ging man durch die Haustür.
Rechts neben Görlitzens Garten lag ein gänzlich verwildertes Grundstück, das nur durch eine Buchenhecke von dem ihren getrennt war. Toni fand auch ihn schöner als den von Verena, weil er etwas Wildes und Mystisches ausstrahlte. Das dazugehörige Haus stand leer und hielt einen Dornröschenschlaf, während die Kletterrosen die Natur zurückeroberten.
Marianne war zwischendurch zu ihrem Kräuterbeet gegangen und hatte frische Salbeiblätter abgeschnitten. Sie hatte Toni nicht gestört, die augenscheinlichganz in ihre Gedanken versunken zu sein schien. Jetzt kam sie mit dem Tee zurück und schenkte zwei Tassen ein.
„Schön, nicht?“, fragte sie.
„Ja, sehr. Ich liebe deinen Garten und wünschte, ich hätte auch so einen, aber ich habe kaum Zeit.“
„Im Sommer lebe ich meist draußen“, sagte Marianne. „Friedhelm hockt lieber in seinem Zimmer, aber ich esse, male, töpfere und schnitze im Freien, wann immer es das Wetter zulässt. Manchmal schlafe ich auch dort in der Hängematte zwischen den Bäumen, siehst du?“
Sie zeigte auf die alten Bäume.
Toni nickte. „Ich habe ganz vergessen, ihm Hallo zu sagen“, sagte sie entschuldigend.
„Macht nix“, antwortete die alte Dame lächelnd, „er ist gar nicht da. Er liebt immer noch diese medizinischen Seminare und ist dauernd irgendwo. Ich weiß nicht mal, ob er heute wiederkommt.“
„Jetzt hätte ich es fast vergessen“, sagte Toni und kramte ein Päckchen aus ihrer Tasche, „das soll ich dir von Sarah geben. Es ist noch zu deinem Geburtstag.“
„Oh, danke schön. Das werden die Federn sein, die sie mir versprochen hat.“
„Federn? Wofür brauchst du die?“
„Für meine Engel. Sie müssen doch Flügel haben. Einer von Sarahs Studienkollegen kommt von einer Gänsefarm aus dem Oldenburgischen. Sie hatte versprochen, mir welche zu besorgen.“
Toni überlegte und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Marianne war schrill und faszinierend. Sie mochte sie wirklich, aber sie war nicht sicher, ob sie ganz richtig im Kopf war.
„So, nun will ich mal nach nebenan, meine Schwester besuchen.“Toni erhob sich.
„Ich sehe sie gar nicht mehr, seit …“, Mariannes Stimme brach ab. Toni umarmte sie und ging in Richtung Tür. Dabei stockte sie, stutzte fast unbemerkt, während ihr ein Schauer den Rücken herunterlief. Einer der Engel, der von der Decke hing, hatte eindeutig Sophies Gesicht gehabt.
Thorsten Büthe
Es war fast Abend. Thorsten Büthe saß an seinem Schreibtisch und hatte die pinkfarbene Uhr in der Hand. Die hatte er sich extra aus Neuharlingersiel kommen lassen, um sie eventuell den Eltern von Sophie zu zeigen.
Er ärgerte sich. Seehundflosse. Was für eine peinliche Geschichte, und er hatte auch noch Hetzer auf die Spur angesetzt. Sie hatten sich lächerlich gemacht. Zuerst der Landarzt da oben an der Küste und dann er selbst, weil er das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung nicht abgewartet hatte.
Zeitsparen war ein wichtiger Bestandteil der Ermittlungsarbeit. Je eher man einer Spur nachging, desto besser. Wenn es denn eine war, sagte er ärgerlich zu sich selbst und schlug mit der Faust auf den Tisch. Dabei fiel die Uhr auf den Boden. Es löste sich der rückwärtige Deckel und sprang davon.
Normalerweise ruhte Thorsten Büthe in sich selbst, aber diese Geschichte mit Sophie beschäftigte ihn. Er war nun schon lange Fallanalytiker beim LKA, aber er konnte nicht verstehen, wieso ein kleines Mädchen beim Verschwinden so wenig Spuren hinterlassen hatte. Es schien, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Sie war einfach fort. Wenn sie wenigstens irgendetwas in den Händen halten würden, an das man anknüpfen konnte. Doch die Befragungen hatten nichts ergeben, es
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