Schattengrund
näher. Die Stäbe waren so eng, dass gerade drei Finger hindurchpassten, mehr nicht. Sie konnte seinen Mund sehen, der sich bewegte und ihr etwas sagte. Aber sie wollte es nicht hören.
»Ich komme zurück. Ich schwöre es dir. Das, was hier passiert ist, wird sich nicht wiederholen. Verstehst du mich?«
Sie schüttelte wild den Kopf.
»Wenn ich zurückkomme, Nico, werde ich das tun, was ich jetzt nicht tun kann. Ich will, dass du das weißt. Wenn ich wiederkomme, Nico …«
Sie ließ den Kopf sinken. Ihre Stirn berührte das eiskalte Metall.
»… werde ich dich küssen.«
Was sagte er da? Seine Finger lösten sich.
»Ich werde dich küssen und in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen. Hast du das verstanden? Ich schwöre dir: Ich bin in zwei Stunden wieder da und wir holen dich raus. Hier.«
Er biss in die Spitze seiner Handschuhe und streifte sie ab. Dann löste er seine Armbanduhr vom Handgelenk und reichte sie ihr hinein.
»Es ist kurz vor Mitternacht. Um zwei sind wir hier. Bis dahin musst du durchhalten. Geh in den Berg, so tief es geht, und komme in zwei Stunden wieder hier hoch. Dann sind wir da.«
»Leon …«
»Und dann wird alles gut. Alles. Okay?«
Ihre Hände in den dicken Fäustlingen konnten die Uhr kaum fassen. Sie hatte aufgehört zu zittern, weil sie sich fühlte, als wäre sie durch und durch aus Eis.
»Okay? Hast du mich verstanden?«
Sie nickte.
»Das mit dem Küssen auch?«
Nico versuchte ein schwaches Lächeln.
»Ja«, sagte sie mit rauer Stimme. Irgendwie hatte sie sich eine Liebeserklärung anders vorgestellt. Vielleicht war es ja auch gar keine. Wahrscheinlich wollte er ihr Mut machen und glaubte, der Gedanke an einen Kuss von ihm könnte Tote aufwecken und Halbtote am Leben erhalten. Nico war sich da nicht ganz sicher. Aber geküsst zum Abschied hätte sie ihn schon gerne. Oder einmal sein Gesicht gestreichelt. Die schmalen Wangen mit den hellen Bartstoppeln, das energische Kinn, die Lippen, die ihr spöttisches Lächeln verloren hatten, und, ja, vielleicht hätte sie auch einen Kuss auf seine Augen gehaucht. Und auf den Mund. Und … Er sah sie mit unendlicher Trauer und Sorge an.
»Ein bisschen wie in Titanic. Nur nicht so nass«, sagte sie.
Er lächelte. Wie konnte man in so einer Situation noch Witze reißen? Und dann auch noch so dämliche?
»Und mit dem Unterschied, dass keiner von uns untergeht«, sagte er. »Ich werde jetzt losmarschieren. Denke daran. In zwei Stunden bin ich wieder da. Ich …«
Er stand auf. Auch Nico kam schwerfällig auf die Beine.
Plötzlich grinste er. »Jetzt weiß ich, wie es sein muss, wenn du im Knast sitzt und ich dich besuche.«
»Komm wieder«, sagte sie nur. »Komm einfach wieder.«
»Das werde ich. Bis gleich.«
Er drehte sich um und lief los. Nach zwanzig Metern hatten die Schneeschauer und die Dunkelheit das Licht seiner Taschenlampe verschluckt.
Nico wandte sich um und starrte hinunter in die Höhle. Sie wollte nicht wieder zurück, aber sie hatte keine Wahl. Ihr Verstand sagte ihr, dass er Siebenlehen erreichen würde, dass er zurückkäme und dass sie eigentlich nur hinuntergehen und auf ihn warten musste.
Aber ihr Herz hatte Angst. Denn dort unten wartete Fili.
Sechsundvierzig
Leon lief über das unwegsame Gelände, so schnell es ging. Zum Teufel mit den Gedanken über »langsam« und »zügig«, Nicos Leben war in Gefahr. Und dann verabschiedete er sich mit diesem blöden Spruch vom Küssen. Sie musste glauben, er wäre übergeschnappt. Dabei hatte er nur Angst um sie und wollte, dass sie irgendetwas hätte, an dem sie sich aufrichten könnte. Ob das ausgerechnet seine Küsse sein würden, wagte er zu bezweifeln. Aber er wollte es tun. Er hatte kein größeres Verlangen, als sie in die Arme zu nehmen und nach Hause zu tragen, egal, wo dieses Zuhause sein würde.
Nach einer Ewigkeit erreichte er das Hochplateau mit den toten Vögeln. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die geköpfte Krähe dachte. Hier draußen war ein Irrer unterwegs, und der Gedanke, dass dieser Wahnsinnige den Schlüssel zu Nicos Gefängnis bei sich trug, machte ihn rasend. Er ärgerte sich, dass er keine Waffe mitgenommen hatte. Ein Messer, eine Eisenstange, irgendwas. Halt durch, dachte er, halt um Himmels willen durch …
Er stolperte über einen Vogel und wäre fast gestürzt. Das Licht der Lampe tanzte hektisch über Steine, Felsen, Bäume. Er rannte weiter. Bergab ging es zwar schneller, aber er musste genau hinsehen,
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