Schattengrund
wohin er trat. Das war schwierig, denn es war immer noch stockfinster, aber das Glück war endlich einmal auf seiner Seite. Völlig außer Atem erreichte er die Kreuzung und erlaubte sich, einen Moment zu verschnaufen.
Was war zu tun? Er holte das Handy heraus, hatte aber immer noch keinen Empfang. Er erinnerte sich, dass er frühestens am Ortsrand von Siebenlehen damit rechnen konnte. Natürlich hatte er Nico angeschwindelt. Man konnte niemandem in einer so ausweglosen Situation sagen, dass es keine Chance gab, Hilfe zu holen. Außer, man machte sich selbst auf den Weg.
Sobald er Schattengrund erreicht hatte, würde er die Polizei alarmieren. Die würde sich mit der Bergwacht in Verbindung setzen, und die … müsste warten, bis der Räumdienst die Straßen frei gemacht hätte. Als Leon dieser Umstand einfiel, hätte er am liebsten laut geschrien vor Wut. Immer kamen die kleinen Dörfer als Letzte ran. Als ob es dort keine Notfälle gäbe! Ein Hubschrauber vielleicht? Aber wo sollte er landen? Wie lange würde das dauern? Er hatte keine andere Möglichkeit: Er musste Zach und den Pfarrer alarmieren und dann versuchen, mit drei, vier gut ausgerüsteten Männern wieder loszuziehen. Das alles würde länger als die versprochenen zwei Stunden dauern. Nico würde ihn hassen. Mit jeder einzelnen Minute, die sie zu spät kamen, mehr.
Er holte tief Luft und marschierte weiter. Es würde reichen, sich Werkzeug aus dem Schwarzen Hirschen zu besorgen und mit Zach loszuziehen. Wenn der nicht wollte, schlimmstenfalls auch allein. Er ärgerte sich maßlos, dass ein einziger kleiner Schraubenzieher, ein Stechbeitel, eine Zange über Leben und Tod entscheiden sollten. Warum hatte er nicht an Werkzeug gedacht, bevor er genauso kindisch wie kopflos losgestürzt war?
Im Vergleich zu dem Trampelpfad durch die Wildnis war der Weg nach Siebenlehen ein Prachtboulevard. Leon kam gut voran. Er schätzte die verbleibende Zeit auf eine knappe halbe Stunde. Zum Hirschen, Zach und seinen Vater alarmieren, Zange holen, Polizei anrufen, wieder los. Mit etwas Glück könnte er es schaffen. Mit ein bisschen gutem Willen von ganz oben müsste Nico nicht länger als nötig in diesem eiskalten Grab ausharren.
Das Licht seiner Lampe erfasste eine unnatürliche Erhebung etwa zwanzig Meter voraus. Leon zügelte seine Schritte und kam vorsichtig näher. Der Erhebung bewegte sich. Sie war ein Mensch. Es war ein großer, vom Schnee halb zugewehter Körper, der quer auf dem Weg lag. Das Licht musste ihn geweckt haben. Er hob den einen Arm vors Gesicht, mit dem anderen stützte er sich mühsam auf. Leon blieb stehen. Begegnungen dieser Art unter diesen Umständen bedeuteten selten etwas Gutes.
»Hallo?« Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Wer sind Sie? Sind Sie verletzt?«
Ein Stöhnen, ein unnatürlicher Laut entrang sich der Kehle des Gestrauchelten. Es war ein Mann, ein großer Mann, und etwas an ihm kam Leon bekannt vor. Er entschloss sich, ein paar Schritte auf ihn zuzugehen.
»Stehen Sie auf. Los!«
Der Mann ließ die Hand sinken und Leon erkannte ein blutverkrustetes, zerschlagenes Gesicht. Was zum Teufel war hier passiert? War das ein Unfall oder … etwas Schlimmeres, das sich in diesem Wald ereignet hatte?
Der Mann stieß einen gurgelnden Laut aus und fiel zurück. Dunkles Blut vermischte sich mit Schnee. Vor ihm lag etwas, das Leon nicht erkennen konnte. Er kam noch ein Stück näher, so nahe, dass er den Verletzen beinahe berühren konnte. Aber er tat es nicht, weil er in diesem Moment erkannte, was vor seinen Füßen lag. Der abgerissene Kopf einer Krähe.
»Maik?«
Leon ging in die Knie. Der Mann wälzte sich herum. Er hatte nur noch ein Auge, zumindest sah es im ersten fürchterlichen Moment so aus. Das andere war zugeschwollen. Ihn musste ein schwerer Schlag mitten ins Gesicht getroffen haben.
»Maik … was ist passiert? Wie kommst du hierher?«
Immer noch konnte Leon sich nicht überwinden, den Mann zu berühren. Vielleicht würde er im selben Moment aufspringen und sich auf ihn stürzen? Er verwünschte seine eigene Hilflosigkeit, mit der er dieser Situation ausgeliefert war.
»Bin gefallen«, stöhnte Maik. »Weiß nicht, wie lange ich hier liege. Hilf mir.«
Widerwillig stand Leon auf und reichte Maik die Hand. Beinahe wäre er kopfüber in den Schnee gefallen, als der andere sie ergriff und sich daran hochzog. Endlich stand Maik. Er schwankte etwas und sah sich unsicher um. Sein offenes Auge
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