Schattengrund
flackerte, als er Leon ansah.
»Sie ist im silbernen Grab? Allein?«
Unwillkürlich trat Leon einen Schritt zurück. Die ganze Situation gefiel ihm nicht. Maik war nicht der harmlose große Junge. Etwas in der Stimme, dem Blick, der ganzen Haltung seines Gegenübers verriet Leon, dass Maik sich verändert hatte. Sehr verändert.
»Ja«, antwortete Leon gedehnt.
Er hörte noch ein metallisches Klicken, als ob sich eine Öse aus einem Karabinerhaken löst, doch bevor er reagieren konnte, war es zu spät. Maik richtete sich auf. Wie ein Riese stand er da, mit hängenden Armen, und in der rechten Hand hielt er einen Hammer.
Siebenundvierzig
Zwei Stunden waren vergangen.
Nico hatte sich hoch ans Gitter geschleppt, doch keiner war gekommen. Sie hielt es nur ein paar Minuten lang aus, dann beschloss sie, wieder in den Gang zu kriechen. Wenn Leon kam, würde er sie dort finden.
Wenn.
Sie erreichte den Stollen und tastete sich zurück zu der Stelle, an der sie zitternd gesessen und gewartet hatte. Das Licht der Taschenlampe war so schwach geworden, dass zum Schluss nicht mehr als ein schwach glühendes Fädchen in der Birne leuchtete. Nico hatte beschlossen, sie nur noch ein letztes Mal anzuknipsen. Dann, wenn sie keine Hoffnung mehr haben würde und dieses zarte Glühen das Letzte wäre, das sie sehen könnte.
Leon, betete sie. Bitte komm heil an. Hol Hilfe. Bitte.
Der kleine Zeiger der Uhr leuchtete ganz schwach Richtung drei. Leon war schon über eine Stunde fällig. Sie hatte das Gefühl, Tonnen von Stein lägen auf ihrer Brust. Kein Laut war zu hören, nur ihr eigener, hektisch ausgestoßener Atem klang in ihren Ohren. Die Kälte legte sich zunächst über ihre Beine und machte sie taub. Dann kroch sie hoch und begann, über ihre Arme herzufallen, die sie eng um den Oberkörper geschlungen hatte. Was kam als Nächstes? Irgendwann, hatte sie einmal gelesen, würde ihr unglaublich warm werden. Heiß. So heiß, dass sie sich ausziehen würde, weil sie es sonst nicht mehr aushalten könnte. Das wäre die letzte Reaktion ihres erfrierenden Körpers.
Ihre Hand tastete über den Boden. Sie hörte ein leises Klirren wie von einem verlorenen Schlüssel. Mit jagendem Herzschlag riss sie sich den Handschuh ab und tastete danach. Als ihre tauben Finger den Gegenstand gefunden hatte, jaulte sie auf vor Schmerz und Enttäuschung. Kein Schlüssel. Ein kleines Ding aus Eisen. Zwei kreuzweise aufeinandergeschmiedete Nägel.
Es dauerte einen Moment, bis ihr betäubter Verstand begriff, was sie gefunden hatte. Das kleine Kreuz, das sie als Kind verloren hatte – hier, an dieser Stelle. Was hatte das zu bedeuten, dass sie es ausgerechnet in dieser Stunde höchster Not wiederfand? Ein so unglaublicher, unwahrscheinlicher Zufall … Und dann fiel ihr ein, dass dies die Stelle sein musste, an der sie mit Fili gesessen hatte.
Sie stöhnte auf und ließ den Kopf zurück an die Wand fallen. Jede Bewegung kostete unendlich viel Kraft. Nach einer halben Ewigkeit gelang es ihr, das Kreuz in ihre Jackentasche zu stecken und den Handschuh wieder anzuziehen. Als sie endlich fertig war und die Arme wieder kraftlos in den Schoß sinken ließ, dachte sie an ihre Eltern. Eines Tages würde man sie finden. Sie und das Kreuz. Für Steff und Theo wäre das kein Trost, aber ihr half der Gedanke, dass sie in dieser dunklen Stunde nicht auch noch von Gott verlassen war.
Sie blinzelte. Helle Schlieren huschten über ihre Augen, obwohl sie sie geschlossen hielt. Gehörte das zum Sterben dazu? Dass man Schleier sah und plötzlich das Gefühl hatte, jemand wäre in der Nähe?
Sie riss die Augen auf – nichts. Absolute Dunkelheit. Langsam wendete sie den Kopf nach rechts, in die Richtung, in die der Stollen noch weiter, noch tiefer in den Berg führte. Wer wusste, wohin? Zum Kyffhäuser? Nach Thale? Zum silbernen Grab?
Die zarten Schleier verdichteten sich. Es sah so aus, als ob in weiter, weiter Ferne ein Licht durch den Gang geistern würde. Nico blinzelte noch einmal. Das musste eine Täuschung sein. Sie war alleine hier. Und wäre sie das nicht, hätte sie es längst bemerkt. Was dahinten geschah, so weit weg, so unendlich tief unten, musste etwas anderes sein. Sankt Elms Feuer. Oder, natürlich, eine Sinnestäuschung.
Das Licht wurde heller und verdichtete sich zu einer kleinen Gestalt. Der Gestalt eines Kindes, das über dem Boden zu schweben schien. Fassungslos beobachtete Nico die Erscheinung, die langsam durch den Gang auf sie zukam und
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