Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
Vom Netzwerk:
zum silbernen Grab? Als er zum letzten Mal so weit oben gewesen war, war es Sommer gewesen. Die Sonne hatte geschienen, der Duft von Harz, Kiefernnadeln und heißem Stein war ihm in die Nase gestiegen und hatte vor Glück fast zu einem kleinen Höhenrausch geführt. Klare Bäche hatten seinen Weg begleitet, sattgrünes Moos seine Schritte gedämpft. Er hatte aus einer Quelle getrunken und Walderdbeeren gepflückt, die auf seiner Zunge einen fantastisch süßen Geschmack entfaltet hatten.
    Glück. Wenn er an diese einsamen Wanderungen im Sommer dachte, hatte er eine Ahnung von Glück. Und das hier war das genaue Gegenteil. Es war die weiße Hölle.
    Er zog den Kopf ein und marschierte weiter. Wenn er das Plateau überquert hatte, würde er an die Ausläufer des nächsten Berghanges gelangen. Ein Wunder, wenn Nico es bis hierhin geschafft haben sollte. Mit jedem mühsamen Schritt verdichtete sich die Ahnung, dass er sie verloren hatte. Er konnte auch an ihr vorbeigelaufen sein. Was das bedeuten würde, wollte er sich gar nicht erst ausmalen.
    Eine besonders scharfe Windbö versetzte ihm einen Stoß, sodass er beinahe rücklings in den Schnee gefallen wäre. Sie erfasste seine Kapuze, die nach hinten flog, und riss ihm die Mütze vom Kopf. Leon bekam gerade noch aus den Augenwinkeln mit, wie der Wind sie packte und damit spielte wie ein übermütiges Kind. Das Letzte, was er von ihr sah, war ein Salto, bevor sie über die Kante des Felsens in die Tiefe fiel.
    In Sekundenschnelle waren seine Ohren taub. Er riss die Kapuze hoch und schnürte sie, so eng es ging, um Gesicht und Kinn fest. Eine Notlösung. Sobald er an eine windgeschützte Stelle kam, musste er den Schal um seinen Kopf wickeln. Der Wind bretterte um seinen Kopf, dass ihm Hören und Sehen verging. Gebückt kämpfte er sich weiter. Seine Hand, die die Taschenlampe hielt, wurde steif. Er hatte Angst, die Lampe würde in den Schnee fallen und er gleich dazu. Wenn das passieren würde – er käme nicht mehr hoch. Der einzige Gedanke, der ihn noch aufrecht hielt, war Nico. Sie musste es geschafft haben. Vielleicht war der Sturm erst vor Kurzem richtig in Fahrt gekommen und sie hatten den rettenden Eingang in den Berg noch gefunden.
    Aber war das Rettung: mit Maik im Berg?
    Er stolperte über einen großen Stein, den er, halb blind wie er war, nicht gesehen hatte. Dann kam noch einer. Und noch einer. Er blieb kurz stehen, strich sich über die Augen und starrte in die wirbelnde weiße Wand direkt vor sich. Und genau in diesem Moment hielt der Sturm inne. Es war nur ein kurzes Atemholen, bevor er mit noch größerer Wut zurückkehren würde. Aber für einen kurzen Moment hatte Leon etwas gesehen: eine dunkle Bergwand und in ihr, herausgeschlagen vor Hunderten von Jahren, einen steinernen Eingang mit einem Tor aus Eisen.

F ünfundvierzig
    Das Licht wurde immer schwächer. Nico knipste es aus, um der Batterie Zeit zu geben, sich etwas zu erholen. Sie zog die Handschuhe aus und hauchte auf ihre erstarrten Finger. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, es wäre hier unten nicht ganz so kalt. Immer noch unter dem Gefrierpunkt, aber wenigstens nicht mehr so tödlich und beißend wie oben am Eingang. Sie spürte ihren Herzschlag wie ein Trommelfeuer in ihren Ohren. Es war die uralte Angst vor der Dunkelheit und dem, was sich in ihr verbergen konnte.
    Es gibt keine Wölfe mehr, dachte sie. Auch keine Bären. Also stell dich nicht so an. Sie erinnerte sich, dass der Boden des Stollens aus Stein und festgetretener Erde bestanden hatte. Obwohl sie keine Hand vor den Augen sehen konnte, setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und tastete sich an der Wand entlang immer tiefer hinein, bis sie auf etwas trat, das ganz anders klang als das Knirschen von Staub und Eis. Vor Schreck schnellte sie zurück und stieß sich den Kopf unsanft an einem Felsvorsprung. Fluchend ging sie in die Knie und machte die Taschenlampe an.
    Vor ihr lag eine kaputte Brotbox aus Plastik. Schwere Stiefel mussten sie zertreten haben. Sie war rosa und auf ihr sprang ein kleines Pony über einen Regenbogen. Mit einem Stöhnen richtete Nico sich wieder auf. Sie war im richtigen Stollen. Diese Brotbox kannte sie. Kiana hatte sie ihr mitgegeben, wenn sie auf Ausflüge gingen. Sie hatte sie gefüllt mit selbst gebackenen Keksen, Obst und einem Stückchen Schokolade. Nico fühlte sich wie betäubt. Sie hätte heulen sollen. Schreien. Zusammenbrechen. Dieses kaputte, verblichene Ding aufheben und an ihr

Weitere Kostenlose Bücher