Schattengrund
immer klarer, immer deutlicher wurde.
»Fili?«
Wer hatte das gesagt? Ihre Lippen waren verschlossen. Sie schmerzten. Ihre Haut war trocken und aufgerissen. Das Sprechen hatte ihr schon bei Leon Mühe bereitet.
»Fili?«
Doch, das musste sie sein. Ihre Stimme hatte ihren Körper verlassen, genau wie der Geist oder die Seele oder die Aura des Mädchens, oder was auch immer dieses Hirngespinst war, das immer näher kam. Jetzt sah Nico die langen hellen Haare, die ihm über die Schultern fielen. Sie war sich sicher, dass sie Angst empfinden sollte. Wenn schon nicht vor dieser Erscheinung, dann wenigstens deshalb, weil sie anfing, verrückt zu werden.
Dabei erkannte sie immer klarer jede winzige Einzelheit: dunkle Sommersprossen, ein wachsbleiches Puppengesicht, den viel zu großen, abgetragenen Anorak und Stiefel – in einem ausgeblichenen, ausgelaugten Rot. Spröde und farblos, wie Plastik, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Das Mädchen blieb stehen oder hörte mit dem Schweben auf, was auch immer, jedenfalls hielt es ungefähr einen Meter von Nico entfernt an. Das schimmernde Geschöpf erhellte die Umgebung gerade so weit, dass Nico ihre eigenen Stiefel noch erkennen konnte. Sie hatte Angst, dieses Etwas würde verschwinden, wenn sie nur einmal pusten würde.
»Du bist zurückgekommen.«
Eine klare, helle Kinderstimme. Freude flutete in Nicos Herz, als sie sie wiedererkannte. Das war das Mädchen, mit dem sie in den Ferien immer gespielt hatte. Ihre erste, richtige, feste Freundin. Nie wieder hatte sie sich später anderen Menschen so verbunden gefühlt – ihre Eltern vielleicht ausgenommen, aber die lebten für ein Kind sowieso auf einem anderen Stern. Meine Freundin. Meine beste, einzige Freundin. Wie schön das gewesen war und wie lange sie gebraucht hatte, wieder so einen Menschen zu finden. Wie hatte sie das alles jemals vergessen können?
»Es tut mir leid.« Nico hörte sich sprechen, aber sie tat es nicht. Auch ihre Stimme klang anders – jünger, kindlicher. »Ich wollte dich nicht allein lassen. Wirklich.«
»Das weiß ich.« Fili lächelte. Dieses Lächeln erinnerte Nico an die Figur der heiligen Barbara. Genau derselbe leicht gesenkte Kopf, die halb geschlossenen Lider und die Tränen aus Eis in den Wimpern. Sie konnte nicht erkennen, ob Fili weinte. Wahrscheinlich nicht. Sie sah glücklich aus.
»Magst du mitkommen?«
»Wohin?«, fragte Nico. Ihr wurde klar, dass sie zwar irgendwie mit diesem Wesen kommunizierte, dabei aber gleichzeitig wie ein Eisblock zusammengekauert auf dem Boden saß und sich keinen Millimeter bewegte.
»Nur ein kleines Stück. Es dauert nicht lange. Du wirst sehen, es ist wunderschön.«
Nico stand auf. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. »Hast du den silbernen Ritter gefunden?«
Die Augen des Mädchens glühten grün wie dunkle Fjorde. Es sah unheimlich aus in diesem blassen Gesicht, aber Nico fürchtete sich nicht. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah sich immer noch auf dem Boden sitzend, den leeren Blick ins Dunkle gerichtet.
»Etwas viel Schöneres. Es wird dir gefallen.«
Fili griff nach ihrer Hand, aber Nico spürte die Berührung nicht. Sie waren beide gleich groß. Das Mädchen zog sie mit sich in den Gang. Nico wusste nicht, ob sie lief oder schwebte. Alles fühlte sich schwerelos und leicht an. Noch einmal sah sie zurück. Ihr Körper war nur noch ein Schatten, der von der Dunkelheit verschluckt wurde. Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass das nicht gut war: So den Kontakt zu sich selbst zu verlieren.
»Ich will nicht.«
Fili ließ sie los und sah sie mit großen, traurigen Augen an. »Das ist aber schade.«
»Wo … Wo bist du?«
Erstaunt antwortete das Wesen: »Hier. Hier bin ich. Bei dir. Ich habe auf dich gewartet, so lange. Ich war immer bei dir. Ich hab geschlafen in dir. Du hast das gar nicht bemerkt. Erst als du wieder hier warst, konnte ich aufwachen.«
»Es tut mir so leid.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die langen Haare schwebten um sie herum, als ob sie unter Wasser wären. »Ich wollte nie, dass du traurig bist. Das war nicht deine Schuld, dass du dich verlaufen hast. Vielleicht habe ich es sogar gewollt und dich in die Irre geschickt? Ich bin glücklich, da, wo ich jetzt bin. Da wollte ich immer sein. Ich bin nicht allein. Viele andere sind auch hier.«
»Wo ist das?«
»Auf der anderen Seite vom Berg«, flüsterte das Wesen. »Alles ist so, wie ich es geträumt habe. Nur noch viel schöner.«
Sie
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