Schattengrund
aus und sortierte es in der Schublade ein. »Es ging um dich und darum, dass sie unserer Meinung nach nicht gut genug auf dich aufgepasst hatte. Es war ein Zerwürfnis, das wir nie wieder kitten konnten. Alte Damen können so schrecklich nachtragend sein.«
»Das klang aber heute ganz anders.«
»Nein.« Stefanie schenkte ihr ein merkwürdiges, fast unechtes Lächeln. »So war das immer. Sie war unglaublich nett und lieb, aber in Wirklichkeit hat sie immer was im Schilde geführt. Noch haben wir die Verantwortung für dich.«
»In sechs Wochen nicht mehr! Es geht um vierundzwanzig Stunden!«
»Eben. Merkst du das nicht? Das ist doch kein Zufall. Sie ist im Sommer gestorben. Und erst jetzt, Monate später, kommt es zur Testamentseröffnung. Sie hat gewusst, dass wir das Erbe ablehnen und wie sehr dich das treffen wird. Hätte sie ihre Notarsankündigung nur um einen Tag nach hinten verschoben, wäre alles allein deine Entscheidung gewesen. Sie hat diesen Streit vorausgesehen. Und glaube mir – ich kann ihr Kichern hören, als sie alles genau so ihrem lieben Freund von Zanner in die Feder diktiert hat.«
Nico setzte sich auf den nächstbesten Küchenstuhl. »Das war Absicht?«
»Was sonst?«
Damit war das Gespräch beendet gewesen. Ihre Gedanken waren es aber keineswegs; sie rasten weiterhin durch Nicos Kopf und gaben ihr keine Ruhe. Nico setzte sich in ihrem Bett auf und knipste die Lampe an, ein billiges Modell von einem Möbeldiscounter, auf dem mehrere Schlümpfe Ringelreihen tanzten. Ihr ganzes Zimmer war ein Sammelsurium von Dingen aus verschiedenen Lebensabschnitten. An den Kindergarten erinnerte noch die Messlatte mit den Strichen neben der Tür. Den Schreibtisch hatte sie zur Einschulung bekommen, wobei man darauf geachtet hatte, dass er »mitwuchs«. Die Bücherregale wurden eigentlich nur noch durch die Bücher zusammengehalten, die sich in ihnen stapelten. Ihre Bettwäsche stammte aus der rosa Phase, die Vorhänge hingegen waren ein echtes eBay-Schnäppchen gewesen. Sie mochte ihr Zimmer. Die beiden kleinen Sessel hatte sie vom Flohmarkt, genauso wie den uralten Schemel, den sie zu einem Beistelltisch umfunktioniert hatte. Neben der Tür stand der Besen. Er passte zu ihr und er passte zu diesem Zimmer. Nur der Gedanke, dass Kiana sie alle zum Narren gehalten hatte, der passte überhaupt nicht.
Sie stand auf und schlich leise über den Flur in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war fast ein Uhr nachts. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern und hoffte, sie würden nicht schon wieder über den Rechnungen sitzen. Auf dem Rückweg bemühte sie sich, besonders leise zu sein.
»Es war unverantwortlich. Wir hätten das niemals zulassen sollen.«
Ihr Vater. Nico blieb stehen, etwas Wasser schwappte über den Glasrand und tropfte auf den Boden.
»Es war ein Notartermin.« Stefanie. »Was hätten wir tun sollen? Ihn einfach unterschlagen? Irgendwie habe ich gehofft, sie würde eine wurmstichige Kommode kriegen und gut wär’s. Aber Schattengrund – das ist unfassbar. Sie hat versprochen, nie wieder Kontakt zu Nico aufzunehmen. Und sie hat sich sogar daran gehalten. Ich habe wirklich geglaubt, sie hält weiterhin ihr Wort, aber da sieht man mal, wie man sich irren kann. Ich kann nur hoffen, Nico wird es vergessen und verschmerzen.«
Nico wollte weitergehen.
»So wie damals?«, fragte ihr Vater. »Sie ist fast erwachsen. Wir hätten es ihr sagen sollen.«
»Nein!«
»Leise, Steff.«
»Nein.« Die Stimme ihrer Mutter wurde zu einem Flüstern. Nico lauschte angestrengt, aber mehr als ein paar Wortfetzen drangen nicht durch die Tür. »… die alten Wunden … nie wieder … die Schuld an allem …«
Offenbar machte ihren Eltern die Familienfehde mehr zu schaffen, als sie zugeben wollten.
»Sie war so krank. Wir mussten sie sogar aus der Schule nehmen und sie ein Jahr später einschulen … hängt ihr bis heute nach … darf es nie erfahren … sie ist darüber hinweg …«
Was durfte sie nie erfahren? Worüber war sie hinweg? Mit pochendem Herzen näherte sich Nico der Tür. Dabei knarrte eine Diele. Erschrocken huschte sie zurück in ihr Zimmer und löschte das Licht. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie hören konnte, dass ihre Mutter kurz in den Flur kam, um nachzusehen. Vorsichtig stellte Nico das Glas auf den Boden und wartete, bis es wieder still war.
Sie versuchte, das Puzzle aus Wortfetzen, das sie aufgeschnappt hatte, zusammenzusetzen, aber
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