Schattengrund
es gelang ihr nicht. Alte Wunden, etwas, an dem Kiana schuld war und das sie, Nico, wohl vergessen hatte. Sie hat nicht gut genug auf dich aufgepasst. War es das?
Oder die Krankheit? Sie wusste bis heute nicht genau, was sie gehabt haben sollte. Ein Nervenfieber, hieß es. Dabei hatten es Erstklässler eigentlich selten mit den Nerven. Manchmal betrachtete sie die Fotos von ihrer ersten Einschulung: Zart war sie gewesen, kleiner als die anderen. Wo will denn die Schultüte mit dem Mädchen hin?, hatte ihr Vater einmal im Scherz gesagt.
Von der zweiten Einschulung gab es keine Fotos. Und Nico konnte sich auch gar nicht mehr richtig daran erinnern. Ein verkorkster zweiter Anfang musste es gewesen sein. Sie hatte den Anschluss verloren und ihn nie so ganz wiedergefunden. In den ersten Jahren hatte die Außenseiterrolle noch geschmerzt, dann hatte sie sich daran gewöhnt. Sie war eben eine Einzelgängerin. Manchmal hatte es noch wehgetan, wenn die anderen sie links liegen ließen. Wenn sie bei der Mannschaftsauswahl im Sport immer als Letzte übrig blieb. Wenn sie It-Girls der Klasse von ihren tollen Geburtstagspartys erzählten, zu denen sie nie eingeladen war. Aber sie hatte gelernt, damit zu leben. Ihre Freunde waren ihre Bücher, und als die Jungen endlich aufhörten, in prustendes Gelächter auszubrechen, sobald sie in die Nähe kam, wurde es auch mit dem Selbstwertgefühl besser. Sie war keine Schönheit, aber manchmal stand sie lange vor dem Spiegel, schaute sich in die Augen und dachte, irgendeinen wird es schon geben, der runde Gesichter und schnittlauchglatte Haare mag. Aber er ließ einfach verdammt lange auf sich warten.
Das wurde erst anders, als sie durch Zufall in diesem Schuljahr neben Valerie gelandet war. Valerie, die schon allein wegen ihrer Körperfülle zwei Drittel der Schulbank für sich beanspruchte und die das letzte Drittel in ihrer umwerfend frechen Art auch noch mit ihren Sachen zupflasterte. Sie war neu, und sie erklärte auch sofort, dass sie nicht einmal quer durch die Stadt umgezogen waren, weil sie eine Luftveränderung wollten, sondern weil sie einfach eine billigere Wohnung brauchten. Valeries freches Grinsen eroberte Nicos Herz im Sturm. Jemand, der so offen mit seiner desaströsen Lage umging, kam auch mit einer Loserin wie Nico als Sitznachbarin klar.
Seitdem war sie nicht mehr allein. Der Gedanke an ihre Freundin und wie sie am nächsten Morgen vor der Schule diese rätselhafte Geschichte durchhecheln würden, tröstete sie.
Nico kuschelte sich in ihr warmes Bett und versuchte, sich an den Duft von Kianas Apfelkuchen zu erinnern. An karamellisierten Zucker und warme Hefe, an Milch und Butterstreusel. Und an ein Lächeln im Gesicht einer Frau, die sich zu ihr hinunterbeugte und fragte: »Möchtest du ein Stück?« Fast schon im Traum erwiderte sie das Lächeln. Im letzten halbwachen Moment wunderte sie sich noch, warum sie sich bei dieser Frau so geborgen fühlte. Bei der Frau, die nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte.
Drei
Der Winter kam viel zu früh und mit einer Wucht, die den Alltag aus den Angeln hob. Der November brachte erst die Kälte, dann den Schnee. Straßenbahnen blieben stecken, Züge mussten auf offener Strecke anhalten, weil die Oberleitungen eingefroren waren. Die Temperaturen kletterten nicht mehr über null, und wenn der Himmel einmal aufriss, warf eine bleiche Sonne ihr trübes Licht auf den Salzmatsch der Fahrbahnen und Gehwege.
Nach ein paar Tagen hatte Nico aufgegeben. Sie konnte ihren Eltern schlecht sagen, was sie in jener Nacht belauscht hatte, und versuchte auf allen erdenklichen rhetorischen Umwegen, trotzdem mehr zu erfahren. Aber jedes Mal, wenn sie mit dem Thema anfing, erntete sie die gleiche Antwort: Keine Diskussionen, das war nichts anderes als Kianas letzter verrückter Scherz. Schließlich musste sich Nico eingestehen, dass ihre Großtante den Notartermin tatsächlich äußerst hinterhältig angesetzt und sie damit alle noch einmal in einen netten Familienzwist verwickelt hatte. In ihrem Herzen lieferten sich Resignation und Aufbegehren einen unentschiedenen Kampf. Als die sechs Wochen sich langsam dem Ende zuneigten, versuchte sie noch einmal, das Ruder mit einer Charmeoffensive herumzureißen – vergeblich.
»Lecker«, stöhnte ihr Vater nach der dritten Portion Lasagne, für die Nico einen ganzen Nachmittag in der Küche gestanden hatte. »Aber wir fahren nicht nach Siebenlehen.«
»Das ist aber nett von dir!«, rief ihre Mutter
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