Schattengrund
hätte dir ein Häkelkissen hinterlassen oder ihre Strickmustersammlung oder irgendetwas, das Großtanten ihren Nichten normalerweise vererben.«
Ein bisschen Geld, dachte Nico. Daran haben wir doch alle gedacht. Es hätte nicht viel sein müssen. Genug, um mal wieder zusammen ins Kino zu gehen. Vielleicht ein neues Handy zu kaufen. Oder ein Laptop, das nicht alle fünfzehn Minuten den Geist aufgibt und ins Gefrierfach gelegt werden muss.
»Fräulein Wagner?«
»Ja? Äh …« Nico warf die Strohhalme in einen Papierkorb aus Leder, der neben dem Schreibtisch stand. Der Besen sah witzig aus. Er war cool. Handarbeit. Er war benutzt worden, das Ende des Stils glänzte dunkler als der Rest. So was gab es heutzutage gar nicht mehr. Sie überlegte, ob er in ihr Zimmer passen würde. Im Moment waren alle ganz wild auf Karos, Hirschgeweihe und Landleben. Ein alter Strohbesen hatte etwas Uriges, Authentisches. Sie könnte ihn neben das Bett stellen und »Der ist von meiner Großtante« sagen.
Sie setzte sich wieder. »Ja, ich nehme an.«
»Nico?« Stefanie beugte sich zu ihr. »Du lässt das bitte bleiben. Das ist Plunder. Dafür kriegst du auf dem Flohmarkt keinen Cent.«
»Ich mag den Besen. Und er ist ein Erbstück. Vielleicht ist er schon hundert Jahre alt. Ihr sagt doch immer: Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß auch, wohin die Reise geht.«
»Theo, nun sag doch auch was!«
Nicos Dad hob hilflos die Schultern. »Das ist deine Verwandtschaft. Du musst das entscheiden.«
»Ich nehm das Zeug«, sagte Nico.
Von Zanner sah zu Nicos Eltern. Theo nickte und ließ sich resigniert wieder neben Nico in den Sessel plumpsen. »In Gottes Namen. Pack es ein. Können wir jetzt?«
Der Notar setzte sich die Lesebrille auf und nahm seine Mappe wieder zur Hand.
»Dann sind wir beim zweiten Teil der Nachlassregelung.«
Stefanie ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen. Nicos Dad atmete scharf ein. Ein zweiter Teil? Ihre Mutter knetete nervös die Hände. Es war still, nur das Ticken der Standuhr drang an Nicos Ohren. Und das Rascheln von Papier, als der Notar die Seite umschlug und sich der Fortsetzung dieser merkwürdigen Testamentseröffnung widmete.
»Liebe Nicola.« Er blickte auf und musterte die Angesprochene mit einem kühlen Blick. Es war klar, dass die Ansprache nicht seine Worte waren, sondern die von Tante Kiana. »So lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Als Kind warst Du oft bei mir und hast mein Haus mit Lachen und Freude erfüllt. Es trägt zwar den Namen ›Schattengrund‹, aber wenn Du da warst, schien die Sonne in allen Räumen. Nichts wäre schöner, als dieses Haus in Deine Hände zu legen. Es ist alt und vielleicht willst Du es auch gar nicht haben. Dann verkaufe es und erfülle Dir einen Wunsch von dem Geld. Ich habe niemanden, und der Gedanke, Dir damit eine Freude zu machen, lässt mich leichter gehen.«
Von Zanner unterbrach kurz, um das Blatt umzuwenden. Stefanie Wagner sah, die Lippen zusammengepresst, zu Boden. Nicos Dad verrieb mit dem Schuh einen unsichtbaren Fleck auf dem Perserteppich. Keine Freude. Nur Unbehagen. Zum ersten Mal dämmerte es Nico, wie einsam Tante Kiana gewesen sein musste.
»Die erste Probe hast Du ja schon bestanden.«
Probe? Welche Probe?
»Du hast dir den wertlosen Plunder nicht ausreden lassen. Liebe Stefanie, ich weiß, dass Du es versucht hast, aber Deine Tochter hat eben ihren eigenen Kopf.«
Nicos Mutter zuckte zusammen.
»Und Du, Theo …« Der Notar sah kurz hoch. Nicos Dad verschränkte die Arme und lehnte sich zurück wie jemand, der eine Standpauke nur deshalb über sich ergehen lässt, damit sie schnell vorbei ist. »… stehst ihr natürlich bei. Ich kann Euch gut verstehen. Aber lasst Nico entscheiden, denn sie ist es, um die es hier geht. Das wisst Ihr beide ganz genau. Ich habe mich Eurem Willen stets gebeugt. Nun aber ist es an der Zeit, dass Ihr Nicki ganz allein herausfinden lasst, ob sie den Weg in die Vergangenheit noch einmal gehen will.«
Nicki. Etwas in Nicos Herz wurde warm. Fast tat es ein wenig weh. Hatte Kiana sie so genannt?
Von Zanner machte eine kleine Kunstpause. Der Wind warf eine Handvoll Regen an die Scheiben. Das graue Tageslicht verlor sich in der Mitte des Raumes, die altertümliche Messinglampe zeichnete einen scharf geschnittenen Lichtkegel auf die Tischplatte. Ein Luftzug streifte Nicos Nacken, als ob jemand hinter ihrem Rücken gerade den Raum betreten hätte. Sie drehte sich um. Nichts. Sie fröstelte.
»Drei Rätsel
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