Schattenhaus
Und genau deshalb war alles aufgeflogen. Weil die Waffe bei den neuen Pflegeeltern aufgetaucht war. Sonst hätte man im Leben nicht rausbekommen, wer der Schütze gewesen war.
Ihm konnten sie trotzdem nichts anhaben. Betreffs seiner Beteiligung stand Aussage gegen Aussage. Und wer würde schon einer kleinen Mörderin glauben?
***
Aksoy brachte Winter kurze Zeit später ein weiteres Tonband. «Den kriegen wir dran», sagte sie. «Merles Aussagen sind zu präzise, um sie abzutun – und dazu Tamms finanzielle Situation …»
Sie spulte ein Stück, bis zur entscheidenden Stelle:
«Und dann hat der Onkel Tamm gesagt, ich muss auf einen Stuhl von der Terrasse steigen, damit ich hoch genug zum Schießen bin, und es soll aussehen, als wäre es ein großer Mann. Und hinterher musste ich dann den Stuhl an die Mauer stellen und mit meinem T-Shirt abwischen, wo ich angefasst habe. Und er hat gesagt, den Revolver muss ich wegschmeißen, in den Teich auf dem Nachhauseweg. Bloß das hab ich nicht gemacht, sondern ich hab den zu Hause versteckt. Das war bestimmt ganz falsch von mir. Aber der Revolver war doch vom Opa. Und der Opa wird bestimmt ganz, ganz böse mit mir, wenn der nicht mehr da ist.»
Das arme, irregeleitete Kind, dachte Winter. Ob man Merles verdrehtes Unrechtsbewusstsein je wieder würde geradebiegen können? Aksoy hatte sich jedenfalls nach Kräften bemüht. Sie hatte Merle erklärt, der Onkel Tamm sei furchtbar böse, und Merle hätte da nie mitmachen dürfen. Aber woher sollte so ein Kind wissen, welcher Erwachsene böse war und welcher Anweisung man folgen durfte? Merle las gern, erinnerte sich Winter. Vielleicht würde ihr die Moral von Kinderbüchern auf den rechten Weg helfen.
«Und was hat sie in der Sache Feldkamp erzählt?», fragte Winter. Hauptsächlich wollte er wissen, ob Merle Olsberg beschuldigt hatte.
«Dazu sind wir nicht mehr gekommen», sagte Aksoy. «Der Tamm-Mord war für heute mehr als genug. Für mich übrigens auch. Ich muss erst mal Kraft tanken, bevor ich mich wieder an Merles Bett setzen kann. Sie sieht so …» Ihre Stimme stockte.
«Ich weiß», sagte Winter. «Sie sieht so unschuldig aus.»
***
Am frühen Nachmittag schneite Fock ins Büro.
«Winter, also wirklich, was machen Sie denn noch hier? Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sind beurlaubt?»
«Ich bin so freundlich, angefangene Sachen fertig zu machen. Protokolle von gestrigen Vernehmungen und dergleichen. Das dürfte ja wohl in Ihrem Sinne sein. Übrigens gehe ich eigentlich davon aus, dass die Beurlaubung noch nicht spruchreif ist. Ich habe schließlich noch nichts schriftlich. Ich weiß nicht mal, welche Vorwürfe gegen mich erhoben werden. Die müssten schon sehr schwerwiegend sein. Und ich werde natürlich gegen eine Suspendierung Einspruch erheben. Wenn es nicht einen sehr guten Grund dafür gibt – und ich wüsste nicht welchen –, dann wird der Personalrat mich darin unterstützen.»
Eine Stunde später hatte Winter seine Zwangsbeurlaubung schriftlich auf dem Tisch. Begründung: Es sei gegen ihn eine Beschwerde und Anzeige eines Kollegen eingegangen, der ungenannt bleiben wolle. Winter habe als Streifenpolizist vor fünfzehn Jahren eine Tötung begangen und sich außerdem der Vertuschung derselben einschließlich Falschaussage und Verleitung zur Falschaussage schuldig gemacht.
Winter las es drei-, viermal, bis er sicher war, dass seine Augen ihn nicht trogen. Er merkte nun auch körperlich, wie sehr ihn das traf. Der Schock saß ihm in der Kehle, in den Eingeweiden, und als er aufstand, waren sogar seine Knie weich.
Er ging geradewegs zu Fock, sagte dem Chef, dass er nicht glauben könne, was hier gegen ihn inszeniert werde, und erzählte ihm, wie der Vorfall vor fünfzehn Jahren wirklich abgelaufen war.
Sie waren um ein Uhr nachts zu einer Frau beordert worden, die von ihrem Exmann bedroht wurde. Über Funk hatte man ihnen gesagt, der Mann habe schon mehrfach Probleme gemacht. Ein Nachbar hatte diesmal den Notruf getätigt. Die Frau habe durch die Tür um Hilfe geschrien. Der Nachbar war der Ansicht, dass der Mann bewaffnet sei.
Es war ein Mehrfamilienhaus. Die Betroffene wohnte im ersten Stock, dort sah man auch Licht. Beim Aussteigen aus dem Streifenwagen hörten sie aus einem gekippten Fenster Wimmern, das sich nach einer verletzten Person anhörte. Winter, damals siebenundzwanzig, hatte die Vorgehensweise ganz seinem Streifenführer Glocke überlassen (der sich alles andere auch
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