Schattenhaus
abrissen. Die Mädchen waren «von dem vielen Krach» verängstigt und warteten nach ihren Worten «ganz lange» unter dem Bett der großen Schwester ab, bis «es still war» und sie schließlich nachsehen gingen. Völlig verstört von dem, was sie entdeckten, saßen sie auf der leeren Seite des Ehebetts neben der Leiche ihrer Mutter, ohne zu essen und zu trinken, bis am folgenden Nachmittag das Telefon klingelte. Die Anruferin war eine alte Schulfreundin der Mutter, die inzwischen in Kanada lebte. Es sollte ein ganz normaler Feiertagsanruf werden. Der Anrufbeantworter der Familie war so eingestellt, dass er das Gespräch automatisch aufzeichnete. Winters neuer Bürogefährte Sven Kettler, inzwischen auch eingetroffen, hatte eine morbide Faszination für dieses Telefonat entwickelt. Während Winter in den Akten las, spielte Kettler ihm das Gespräch mehrfach ungebeten vor.
Eine Kinderstimme meldete sich mit «Hallo», darauf die Anruferin: «Hallo, ist da die Merle?» – «Ja.»
«Hallo, Merle-Maus, hier ist Janine aus Kanada. Wie geht’s dir denn, hattet ihr schöne Weinachten?»
(Pause, zögerlich:) «Ja-ah.»
«Was hast du denn bekommen?»
(Pause.) «Ein Spiel.»
«Wow, da hast du dich sicher gefreut. Sag mal, Merle, kann ich deine Mami sprechen?»
«Nein. Die Mami ist tot. Die hat einer totgeschossen.»
Die Verzweiflung und Hilflosigkeit in der Stimme des Kindes waren herzzerreißend. Doch Kettler hielt die Dialogwendung
Kann ich die Mami sprechen? – Die Mami ist tot
für einen besonders guten Witz. Seine kastanienbraunen Locken, die sich um die Stirnglatze rankten, wippten fröhlich, und er grinste jedes Mal, wenn die Stelle kam. «Müsste man bei YouTube einstellen», bemerkte er launig, als er das Gespräch zum dritten Mal laufen ließ.
Winter hatte sich nach zwei Monaten mit Sven Kettler im Büro daran gewöhnt, dass der Mann nichts ernst nahm. Das sorgte immerhin für eine lockere Atmosphäre. Aber als er die Stelle zum dritten Mal abspielte, wurde es Winter zu viel.
«Deinen Humor müsste man haben. Mensch, Sven, schalt das Ding aus und kümmer dich um deine Arbeit. Es ist ja nicht so, dass ihr schon weit gekommen wärt.»
«Wieso? Lief doch prima ohne dich», parierte Kettler gut gelaunt. Winter verdrehte die Augen, aber sagte nichts, weil Kettler jetzt zumindest so tat, als würde er Hinweise auswerten. Tatsächlich hatte das Team der Mordkommission 1 während Winters Urlaub einiges abgearbeitet. Aber dabei war nicht ein Fünkchen Licht in den Fall gekommen. Nach zwei Wochen Ermittlungsarbeit hatte man in klärbaren Fällen zumindest eine Ahnung, in welche Richtung es ging. Aber hier? Um einen Raubmord handelte es sich nicht. Jedenfalls war im Haus der Familie nichts durchsucht oder in Unordnung gebracht worden. Einen Safe gab es nicht. Die Kinder konnten nichts nennen, was fehlte. Es schien, als hätten der oder die Täter das Ehepaar Vogel gezielt getötet, um dann wieder spurlos in der Nacht zu verschwinden. Es wirkte wie eine Hinrichtung.
Winter scannte noch einmal das Material über den Ehemann. Gab es Hinweise auf Kontakte zur Unterwelt, die er übersehen hatte?
Thomas Vogel war neununddreißig Jahre alt, zehn Jahre älter als seine Frau. Auf den Fotos war ein schmaler, aber durchtrainierter Mann zu sehen, mittelgroß, mit Tätowierungen und einem modischen Ansatz von Schnauz- und Kinnbart. Das Gesicht war eine Spur feminin, und bis auf einen charakteristischen Leberfleck auf einer Wange durchschnittlich-nichtssagend, die Haare waren auf Millimeterlänge rasiert und in der Stirn ausgedünnt. Vogel arbeitete als selbständiger Fliesenleger ohne Meisterbrief; heutzutage ging so etwas. Im ganzen Haus gab es nichts, was darauf hindeutete, dass Thomas Vogel neben seinem Fliesenlegerberuf einer illegalen Tätigkeit nachgegangen war. Einer, bei der er sich skrupellose Feinde hätte machen können. Feinde, die vor Mord nicht zurückschreckten.
Die Finanzen der Familie waren in Ordnung. Thomas Vogel besaß eine Kundenkartei und einen Terminkalender. Winters Kollegen hatten die Kunden der letzten Wochen befragt und Vogels Rechner durchforstet, ohne auf irgendeine Besonderheit zu stoßen. Höchstens, dass es Anzeichen für Schwarzarbeit gab. Aber das war bei Handwerkern nicht ganz selten und höchstwahrscheinlich nicht fallrelevant. Außerdem waren die Kollegen auf einen Familienzank mit Thomas Vogels Mutter gestoßen, eine klassische Erbstreitigkeit. Das Haus war Herrn Vogel vor acht
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