Schattenhaus
Aufmacher der Zeitung lautete: «Mein Leben mit dem Mörderkind.»
Darunter ein Foto, auf dem Andrea Vogel mit Wolke an der Hand zu sehen war, die Augenpartien beider nur notdürftig gepixelt.
Winter hielt dem Verkäufer sein Kleingeld hin, nahm sich ein Exemplar, las im Stehen. Die Bildunterschrift lautete: «Ist auch sie todgeweiht? Pflegemutter Andrea V. ( 39 ) mit der kleinen Wolke V. ( 3 ), Schwester der siebenjährigen Mehrfach-Mörderin Merle.»
Im Artikel dazu hieß es: «Würden Sie Ihr Kind in dieselbe Klasse mit einem Mädchen gehen lassen, das vier Menschen kaltblütig getötet hat? Das fragen sich nun die Eltern der 2 a an der Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied, die das Mörderkind Merle bald wieder besuchen soll.»
Darunter ein kleines Bild der Schule.
Es war genau so gekommen, wie Winter befürchtet hatte. Als er weiterlas, wurde ihm auch klar, wer der Zeitung gegen sicher gute Entlohnung von seinem «Leben mit dem Mörderkind» berichtet hatte: Es war nicht etwa Andrea Vogel gewesen. Nein, es war Carsten Tamm. Ausgerechnet. Er würde für Geld sicherlich alles tun.
Apropos Geld: Konnte Winter es sich überhaupt leisten, eine teure neue Lederjacke zu kaufen – jetzt, wo unklar war, ob er nicht bald seinen Job los wäre?
«So weit kommt es nicht», sagte Carola, als er Zweifel äußerte.
Er konnte nur hoffen, dass sie recht behielt.
Mittags beim Essen hörten sie im Hessischen Rundfunk, dass ein leitender Polizeibeamter im Fall Vogel suspendiert worden sei, wegen «Ermittlungsschlamperei und anderen Unregelmäßigkeiten». Die Kinder sahen beunruhigt aus, ahnten sofort etwas, und Felix fragte: «Das bist aber nicht du, Papa, oder?»
Das war der Moment, an dem Winter seine merkwürdige schwebende Leichtigkeit angesichts des Dramas verlor. Winter wollte seinen Sohn einfach nicht anlügen. Er gestand, dass es Probleme gab; erklärte im Groben, worum es ging. Felix wirkte verstört. Sara schien es weniger schwerzunehmen, sie war abgeklärter, idealisierte ihren Vater weniger und hatte auf die harte Art schon selbst gelernt, dass im Leben nicht immer alles gutging.
Winter war sich leider alles andere als sicher, ob ihm die Kinder glaubten, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Sondern dass er ein Opfer von Intrigen war. Und das quälte ihn.
Doch erst am Nachmittag, ein, zwei Stunden vorm Ende des Ultimatums, das er Glocke gesetzt hatte, sank mit aller Schwere auf ihn nieder, wie ernst seine Lage war. Wenn nicht ein Wunder geschah und Glocke ein Einsehen hatte, würde er in einem halben Jahr in Unehren entlassen auf der Straße sitzen, ohne Gehalt, ohne Pensionsansprüche, ohne seine Arbeit und mit einem Knick im Lebenslauf, der sich nie wieder ausbügeln ließ. Da konnte er machen, was er wollte.
Gegen Abend bekam er eine SMS von Aksoy. Mit Herzklopfen drückte er auf Öffnen. Er fand keine erlösende Nachricht.
Wie geht’s? Tamms DNA an Tatwaffe. Wir kriegen ihn. Sehr LG Hilal.
Es war lieb von ihr, dass sie ihn auf dem Laufenden hielt. Aber er konnte nicht antworten. Er konnte es schwer ertragen, ihr leidzutun. Mal ganz abgesehen davon, dass er nie so sehr mit ihr schlafen wollte wie jetzt – aber nun nicht einmal mehr davon träumen durfte, da er sich Carola wieder verpflichtet fühlte.
Eigentlich hatte er vorgehabt, falls er nichts hörte, gegen Ende des Arbeitstages im Präsidium und bei Fock vorbeizugehen, um seine Position noch mal darzustellen und Druck zu machen. Doch sein Kampfgeist war dahin. Er hatte ja sowieso schon verloren. Wie sagte der Personalrat: Wenn die Oberen sich erst mal auf jemanden eingeschossen haben, ist alles zu spät.
Am folgenden Tag, einem Mittwoch um elf Uhr mittags, stand Winter am Wohnzimmerfenster und starrte dumpf auf die Straße, als die nächste SMS kam.
Alles okay, Andi? Hier Gerüchte, du kämest bald wieder. Hilde sagt, ein Teil der Anschuldigungen vom Tisch. LG Hilal.
Winter ließ sich auf den Sessel fallen und spürte einen Moment Tränen in den Augen. Er war so unglaublich erleichtert. Doch als er Carola vom Gemüsehändler auf der Eckenheimer Landestraße kommend die Wohnung betreten hörte, wischte er die Tränen weg und trat seiner Frau gelassen entgegen. «Die Gerüchteküche im Präsidium brodelt», sagte er, während er Carola den Korb abnahm und ihn in die Küche trug. «Es sieht nicht mehr ganz so schlecht aus wie gestern.»
Am Donnerstag früh fand er die Mitteilung über das Ende seiner Beurlaubung im Briefkasten.
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