Schattenhaus
die Jahre, nachdem ich mich einmal entschlossen hatte, dir zu helfen. Aber Sven Kettler wird dich zum Teufel jagen, sobald es opportun für ihn ist. Und das hättest du ja tatsächlich auch verdient. Also, Heinz, ich gebe dir drei Tage, zu Fock zu gehen und die Wahrheit zu beichten. Wenn du dein Gesicht wahren willst, kannst du ja sagen, dass du dich nicht mehr so genau an den Vorfall erinnerst, aber Kettler dich bedrängt hat, es so darzustellen, wie du es getan hast.
Wenn du das bis Dienstagabend nicht gemacht hat, werde ich dich anzeigen. Erstens wegen Totschlags – der ist nämlich noch nicht verjährt. Und zweitens wegen Verleumdung, dann kriegst du einen Zivilprozess von mir an den Hals mit Klage auf Schadenersatz. Überleg’s dir gut. Auf Wiedersehen.»
***
Winter ordnete den Schreibtisch und packte ein paar private Sachen ein. Aksoy tauchte irgendwann auf und legte ihm die Hand auf den Rücken. «Wir telefonieren», sagte er bloß, räumte weiter, gab der Versuchung einer neuen Umarmung nicht nach. Er fühlte sich schwächer im Augenblick, als er gegenüber Aksoy wirken wollte. Gestern war es noch er gewesen, der sie getröstet hatte.
Später, zu Hause, erlebte er etwas, womit er beim besten Willen nicht gerechnet hatte. Die ersten warmen, positiven Momente mit Carola seit Monaten. Er erzählte ihr deprimiert die ganze Geschichte und erwartete, zu allem Übel von ihr noch Vorwürfe aufgetischt zu bekommen. Doch das Gegenteil geschah. Nun erstmals glaubte sie ihm wohl, dass es stimmte, womit er sich ihr gegenüber immer verteidigt hatte: Es werde am Arbeitsplatz von einem Kollegen gegen ihn intrigiert, er sei unter großem Druck, sich gegenüber Fock zu beweisen und den Intriganten Lügen zu strafen – und deshalb mache er so viele Überstunden. «Mein armer, armer Liebling», sagte Carola, nahm ihn in den Arm und tröstete ihn, sie würden das zusammen schon schaffen. Am Ende landeten sie miteinander im Bett, obwohl es gerade mal sechs Uhr war. Zu so unorthodoxen Zeiten hatten sie seit Jahren nicht miteinander geschlafen. Falls überhaupt.
Als sie später zusammen einen Film sahen, den Winter sich gewünscht hatte, glaubte er zum ersten Mal wieder, dass er und Carola miteinander eine Zukunft hatten. Eine, die nicht nur darin bestand, für die Kinder den Schein einer normalen Ehe und Familie zu wahren. So groß war die Last, die dadurch von ihm abfiel, dass ihn die berufliche Katastrophe nur noch mit halber Kraft traf.
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Carola schlug vor, seiner Zwangspause etwas Positives abzugewinnen. In den folgenden beiden Tagen unternahmen sie daher einiges, was man so an schönen Tagen machte in Frankfurt, von Palmengarten bis Rebstockbad. Die Ruhe im Auge des Sturms, dachte Winter. Den Kindern sagten sie vorläufig nichts, um sie nicht zu beunruhigen, sondern erzählten, Winter habe sich nach der harten Ermittlung ein paar Tage frei genommen.
Am Montag allerdings sprach Winter beim Personalrat vor. Die Resultate machten ihm nicht gerade Mut. «Du weißt doch, wie das bei uns läuft», hatte der eine Personalratskollege gesagt. «Wenn die Oberen sich einmal auf jemanden eingeschossen haben, gibt’s kein Zurück. Du kannst natürlich klagen, aber das dauert Jahre.» Bei einer weiblichen Personalrätin hatte Winter den Eindruck, sie glaube ihm nicht, nach dem beliebten Motto: Wenn einem Mann eine Gewalttat vorgeworfen wird, muss es einfach stimmen.
Am Montagabend sah sich Winter mit mulmigem Gefühl im Internet die Pressekonferenz zum Fall Vogel/Feldkamp/Tamm an, die auf der Tagesschau-Website live übertragen wurde. Die Sache kam ganz groß raus. Eine kurze Einblendung aus der Pressekonferenz gab es sogar in der Tagesschau selbst, wahrscheinlich die Erfüllung eines Fock’schen Traums: einmal im Leben in der Tagesschau.
Fock hatte sich nicht bemüht, die Anonymität der Vogel-Mädchen zu wahren. Der kurze Tagesschaubericht zeigte außer einem telegenen Fock jeweils einen Moment lang das Haus der Eltern Vogel sowie das Höchster Wohnhaus von Andrea Vogel, der Pflegemutter. Im hessischen Fernsehen wurden zusätzlich die Nachbarn und Bekannten der Familien interviewt, Frau Höfling vorneweg, die mehrfach die Namen Merle und Wolke nannte.
Am Dienstagvormittag schleppte Carola ihren Mann auf die Zeil, um zu bummeln und ein bisschen zu shoppen. Sie fand, er brauche eine neue Lederjacke.
Am Eingang zum Kaufhof stand der übliche Boulevardzeitungsverkäufer. Winter zog es magisch zu dem Stand. Der große
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