Schattenhaus
Chamäleon gewesen. Oder so unscheinbar, dass jeder in ihr sah, was er wollte. Nur eines bestätigten alle: Frau Vogel habe oft von ihrem Mann, ihrem Haus und ihren angeblich sehr begabten Kindern erzählt.
Mit anderen Worten: Die Ermittler wussten über Sabrina Vogel gar nichts.
Winter seufzte, reckte sich, legte den Bleistiftstummel zur Seite. «Sven?», wandte er sich an Kettler. «Ich habe das Gefühl, ihr seid mit den Ermittlungen noch nicht zum Kern der Sache vorgestoßen. Es muss irgendeinen entscheidenden Faktor geben, den wir nicht kennen. Gibt es schon einen Plan, wie wir weiter vorgehen?»
«Na klar. Wir konzentrieren uns auf die Omma. Es ist doch klar, dass die es war.»
«Ha, ha», sagte Winter, der das für einen schlechten Witz hielt.
«Nee, echt», sagte Kettler. «Das war die Omma.»
Winter wusste nicht, ob er befremdet oder belustigt sein sollte. «Wie kommt ihr denn darauf?»
«Die Motivlage. Die Alte hasst ihren Sohn und will das Haus.»
«Ach, du meinst, die Mutter von Thomas Vogel. Ich dachte schon, die andere Oma bei Lauterbach, mit der die Vogels viel Kontakt hatten, das wäre ja völlig absurd. Aber trotzdem, Sven. Die alte Frau setzt sich doch nicht nachts aufs Motorrad, mit einer Waffe im Gepäck, um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu erschießen. Ich hab in fünfzehn Jahren MK nicht ein einziges Mal erlebt –»
«Sie hat es natürlich nicht selbst gemacht. Sie hat einen Auftragskiller geheuert.»
«Aber trotzdem –»
«Ich sag dir nur, schau dir das Video an. Es gibt eins von der Vernehmung. Ich hatte die Alte schon vorher auf dem Kieker, weil sie überhaupt nicht überrascht oder geschockt von der Todesnachricht war. Dann hab ich sie vorgeladen und hab das aufzeichnen lassen. Wir sprechen uns wieder, wenn du das Video gesehen hast. Für mich ist der Fall klar.»
***
Winter blieb kaum etwas übrig, als sich die DVD vorzunehmen. Die Aufnahme war allerdings eher amüsant, als dass sie der Aufklärung des Falles diente. Frau Vogel senior, Vorname Renate, wohnhaft in Kelkheim, war eine sehr gepflegte, gutaussehende ältere Dame, die über ihre ganze Familie schimpfte wie ein Rohrspatz. Thomas Vogels Vater, mit dem sie nie verheiratet gewesen war, sei ein «Säufer unter Gottes Sonne» gewesen, doch zum Glück seit zwanzig Jahren unter der Erde. Über ihren Sohn Thomas teilte sie mit, sie habe das undankbare Blag seit Jahren nicht gesehen. Es wundere sie nicht, dass es ein schlechtes Ende mit ihm genommen habe. Dem schloss sich eine lange Tirade an: «Der war doch immer frech und faul, der Thomas. Und dann hat er mich um mein Erbe gebracht, die eigene Mutter schamlos betrogen. Das ist doch mein Vaterhaus, wo er jetzt wohnt, das müsste mir gehören nach Recht und Gesetz, aber er hat sich’s von der Großmutter überschreiben lassen, wie die im Sterben lag. Da hat er sie beredet und gemacht und getan, die war doch eh schon nicht mehr klar im Kopf. Aber er war ja immer ihr Liebling gewesen, der Thomas, auf den hat sie nichts kommen lassen, bloß die eigne Tochter war nichts wert, ich konnte es der Alten nie recht machen. Das hat der Thomas nun von dem Haus, was er mir unter den Händen weggestohlen hat. Es lag ja sowieso zu einsam, da musste man immer fürchten, dass jemand einbricht. Ich kann von Glück sagen, dass ich meine Eigentumswohnung in Kelkheim habe. Ein gepflegtes Haus, da passiert so etwas nicht.»
Winter fand es bedrückend, dass nicht einmal der Tod des Sohnes die Frau von ihrem Groll befreien konnte. Doch Kettlers Behauptung, sie sei dafür verantwortlich, konnte er trotzdem nicht ernst nehmen. Eine Mutter, die einen Auftragskiller anheuerte und den eigenen Sohn ermorden ließ – das widersprach all seiner kriminalistischen Erfahrung.
Zurück im Büro zog Winter seine Jacke über, dunkelbraunes Wildleder mit Fell innen, schon etwas abgewetzt, aber gerade richtig für die Kälte unter grauem Himmel draußen, die der Wetterbericht als «ruhiges Winterwetter» angekündigt hatte.
«Ich sehe mir das Haus an», informierte er Kettler. «Ich muss irgendwie ein Gefühl für den Fall bekommen, vielleicht fällt mir ja noch was auf.»
Minuten, nachdem Winter draußen war, rief Fock an, der Chef des K 11 . Kettler hob Winters Telefon ab.
«Kettler, K 11 .»
«Fock. Ist Winter nicht –»
«Herr Winter ist entschwunden, um sich das Haus der Familie Vogel anzusehen. Er meint, er kommt überhaupt nicht zurecht mit dem Fall, und hofft, dass ihn dort eine
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