Schattenherz
paranoiden Wahnvorstellungen und Pseudologia phantastica â dem irreführenderweise geradezu romantisch klingenden Fachbegriff für pathologisches Lügen. Und sie hatte als letzte einer Reihe von Irrsinnstaten ihr Zimmer in Brand gesteckt, um sich umzubringen.
Er hatte mich eingeschlossen, Dakota, oben im Turmzimmer. Und dann hat er gehofft, dass ich im Schlaf ersticke, verstehst du? Ich bin wach geworden und hab versucht, die Tür aufzukriegen. Dann hab ich mein Handy gesucht, aber meine Tasche war auf einmal spurlos verschwunden. SchlieÃlich hab ich das Fenster aufgerissen, um Luft zu kriegen. Aber der Wind, der durchs Fenster reinkam, hat das Feuer nur noch weiter angefacht. Irgendwann konnt ich vor lauter Rauch nicht mal mehr schreien und an Rausspringen war nicht zu denken, dafür ist es viel zu hoch.
Ich hab noch überlegt, aufs Dach zu klettern, aber da gab es nichts, woran ich mich hätte festhalten können â¦
Dann muss ich wohl ohnmächtig geworden sein.
Reiner Zufall, dass jemand um die Zeit noch in der Gegend unterwegs war. Das Haus liegt ganz allein, weiÃt du? Hat sich mein UrurgroÃvater Anfang des vorigen Jahrhunderts in sein Jagdrevier bauen lassen. Privatweg. Betreten verboten. Und überhaupt: ist heute alles Naturschutzgebiet. Also eigentlich darf da keiner rumstrolchen. Aber da war trotzdem einer unterwegs. Keine Ahnung, was der nachts da gesucht hat. Jedenfalls hat der die Feuerwehr gerufen. Hinterher â also, nachdem die die Tür eingerannt und mich rausgeholt hatten â haben sie den Zimmerschlüssel unten vor dem Haus gefunden. Direkt unter meinem Fenster. Helmut â also: mein sogenannter Vater â muss ihn da platziert haben, nachdem er das Feuer gelegt hat. Und dann ist er weggefahren. Es sollte später ja so aussehen, als hätt ich mich â kaum dass er weg war â in mein Zimmer eingeschlossen und den Schlüssel rausgeworfen. Damit ichâs mir nicht anders überlegen kann.
Späterâ¦
Das heiÃt, nachdem ich erstickt war. Oder verbranntâ¦
ScheiÃeâ¦
Keiner hat das überprüft, Dakota. Die Feuerwehr nicht und die Polizei auch nicht. Und glauben tut mir das eh keiner.
Die Tage in der Klinik gingen weitgehend ereignislos ineinander über: Einzeltherapie, Gruppentherapie, Musiktherapie, Maltherapie â¦
Malin lieà alles über sich ergehen, als sei es eine andere Person, der das Ganze widerfuhr. Als sie merkte, dass sich die Stimmung bei allen Beteiligten deutlich aufhellte, wenn sie das, was ihr zur Last gelegt wurde, zugab, hörte sie auf, ihre Unschuld zu beteuern. Sie blieb für sich, nahm an keiner der Gemeinschaftsaktivitäten teil, las viel und genoss die Freistunden im Park.
»Frau Dr. Reinhardt, ich hab da noch âne kurze Frage!«
»Ja, was denn?« Die Ãrztin hatte es aufgegeben, Malin zu »Franzi« und »du« zu überreden. Sie war schon fast aus der Tür: der perfekte Augenblick, um scheinbar ganz nebenbei auf etwas zu sprechen zu kommen, das Malin schon eine ganze Weile auf der Seele brannte
»Wieso haben Sie neulich eigentlich so komisch reagiert, als es um meine Mutter ging?«
Die Augenlider der jungen Ãrztin zuckten fast unmerklich. Dann fixierte sie einen unsichtbaren Punkt links oben an der Zimmerdecke und hob die Schultern. »Ich weià nicht, was du meinst.«
»Ich hab gesagt, meine Mutter ist tot, und Sie habenâ¦Â« Malin suchte nach den richtigen Worten. »⦠Sie haben halt irgendwie merkwürdig geguckt.«
»Ich?« Die junge Ãrztin lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Hab ich das?« Dann gab sie einen kleinen Schniefer von sich, zupfte ein Papiertaschentuch aus ihrem Jackenärmel und putzte sich die Nase.
Malin war oft genug als pathologische Lügnerin hingestellt worden, um sich mit den einschlägigen Symptomen bestens auszukennen.
Na bitte! Geradezu klassisch! Augenliderflattern, Blick wandert nach links, dann schnell âne völlig überflüssige Gegenfrage und als Sahnehäubchen ân total abgedroschenes Ablenkungsmanöver.
»Ich kann mich wirklich nicht erinnern, komisch reagiert zu haben«, sagte die Ãrztin, nachdem sie das Taschentuch wieder verstaut hatte, und Malin wusste: Das war zu hundert Prozent gelogen.
Kapitel 3
I ch heiÃe Anatol.«
Malin schaute von ihrem Schmöker auf. Der rothaarige junge Mann stand vor ihr. Wie
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