Schattenherz
später begrüßte ihn der Lärm des Lebens auf einer Burg – das Klirren von Metall, das gehämmert wurde, die Flüche irgendeines Lords, der verlangte, seine Untertanen sollten die Vorräte an den Burgmauern in Sicherheit bringen, Hähne, die in den letzten Strahlen des Tageslichts krähten.
Mehr noch als all das hörte er das Schreien von Krähen, das Gurren von Tauben und das Kreischen der Möwen am
Himmel über ihm.
So kam es, daß er sich von seinem Gehör in eine Stadt leiten ließ, wo er auf eine schmale Straße stieß, die zu einem erhöhten Deichweg hinausführte. Er wußte, daß er sich auf einem Deichweg befand, denn zu beiden Seiten der Straße plätscherte Wasser, und der Nebel roch plötzlich nach Algen.
Schließlich stieß er auf ein Vorwerk, einen gewaltigen steinernen Torbau, den man mitten auf die Straße gesetzt hatte.
Der Nebel war so dicht, daß ihn kein Posten anrief, während er sich dem Tor näherte, denn sie konnten ihn nicht besser sehen als er die Burg.
»Jemand da?« rief Roland.
Von oben, oberhalb des Tores, war ein dröhnendes Lachen zu vernehmen. »Wir sind hier ungefähr eine Million, mein Freund. Sucht Ihr jemand Bestimmtes?«
»Ich habe eine Nachricht für Herzog Paldane«, antwortete Roland, der sich wie ein Narr vorkam, »eine Nachricht von Baron Haberd.«
»Na, dann kommt zum Seitentor, guter Mann, damit wir einen Blick auf Euch werfen können!«
Roland folgte dem riesigen Eisentor nach rechts und fand nichts weiter als ein schmales Türmchen mit Schießscharten für Bogenschützen oben und ein paar Schlitzen, durch die Lanzenträger attackieren konnten. Er linste in einen der Schlitze und konnte in den Turm hineinsehen – Fackeln brannten dort, und drinnen saßen wenigstens zwanzig Soldaten. Ein nicht übermäßig intelligent aussehender Bursche stieß mit seiner Lanze nach Roland und rief: »Buh!«
Roland folgte dem Eisentor zurück nach links und entdeckte ein kleines Fallgatter, an dem ihn mehrere Gardisten erwarteten. Im Nebel konnte Roland, von schattenhaften Umrissen abgesehen, nicht viel von ihnen erkennen.
»Tut mir leid«, meinte Roland. »In diesem Nebel sieht man seine eigenen Füße nicht.«
»Ich werde das Kompliment an die Zauberer weitergeben«, erwiderte der Kommandant der Garde. Er nahm Rolands Botentasche entgegen und untersuchte das Siegel. »Dieses Siegel wurde erbrochen.«
»Ich bin selbst kein Bote«, gab Roland zu. »Ich fand den Mann tot auf einer Straße und habe nur die Tasche
hergebracht. Ich mußte sie öffnen, um zu wissen, wo ich sie abliefern soll.«
»Kluger Bursche«, lobte der Kommandant der Garde.
Er öffnete das Fallgatter und drängte ihn auf die Zugbrücke, dann weiter zu einem zweiten Vorwerk und schließlich einem dritten. Jedes Vorwerk wurde stärker bewacht als das vorhergehende. Unten waren Soldaten mit Kriegshämmern und Lanzen stationiert, während von oben Bogenschützen und Artillerie den Angriff erwarteten.
Der Nebel war so dicht, daß Roland das Wasser zu beiden Seiten der Brücke nicht sehen konnte, obwohl er es roch und an den Pfeilern plätschern hörte.
Während er Meile auf Meile durch den Nebel marschiert war, hatte sich bei Roland die Besorgnis breitgemacht, die Burg könnte vollkommen unverteidigt sein. Er hatte auf den Straßen keinen einzigen Soldaten entdeckt.
Als er in den Innenbereich gelangte, wurde sofort
offensichtlich, daß überall Krieger waren. Ritter biwakierten zu Tausenden unten im Burginnenhof, und auf den Mauern wimmelte es von Verteidigern.
Doch erst nachdem er den Burghof hinter sich gelassen hatte und in die eigentliche ummauerte Stadt Carris vorgedrungen war, wurde ihm so recht bewußt, wie viele Menschen hierher geflohen waren. Als der Gardist auf der Mauer gemeint hatte: »Wir sind hier ungefähr eine Million«, hatte Roland dies für einen Scherz gehalten.
Jetzt erschien ihm dies möglich. Carris war groß, eine langgezogene Insel, wie er aus der Ferne gesehen hatte. Die Mauern wiesen zahlreiche Türme auf, und die Verteidigungsanlagen innerhalb der Stadt bestanden aus Dutzenden von ummauerten Stadthäusern und kleinen Festungen.
Gut denkbar, daß Carris eine Million Menschen beherbergt, überlegte Roland. In den Gassen wimmelte es von
Straßenjungs, die einem zwischen den Beinen herumliefen, von Frauen, die mit ernster Miene eilig ihres Weges gingen, und überall gab es Bewaffnete.
Auf jedem Giebel hockten Krähen, Möwen und Tauben.
Stinkende Ziegen knabberten an
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