Schatteninsel
offenbar zu absolvieren gedachte wie eine Wahlveranstaltung.
Ina erwiderte den Gruß unbeholfen. Es sah aus, als wollte sie zeigen, dass sie kein kleines Mädchen war, doch der Versuch misslang. Aaron wandte sich ab, sobald er seine Pflicht erfüllt hatte, und betrachtete das Haus. Jenni war sicher, dass er es abschätzte, wie alles, was mit Markus zu tun hatte, stets wissend, was die bessere Alternative gewesen wäre.
»Ein tolles Haus«, meinte Jenni, weil Aaron genau das nicht hören wollte.
Ina warf einen Blick über die Schulter und sah aus, als wäre ihr der Gedanke vollkommen fremd.
»Ja«, sagte sie. »Ein wenig abgelegen, aber Markus’ Arzt kommt einmal im Monat, und wir haben ja den Wagen. Das erste Stück fahre ich im Leerlauf, damit Markus den Motor nicht hört. Motorengeräusch macht ihm Angst.«
»Wie geht es ihm?«
Ina lächelte, wie man Besuchern gegenüber lächelt.
»Nicht gut.«
»Ist er traurig?«, fragte Miro plötzlich und betrachtete irgendetwas auf der Höhe von Inas Bauch.
Ina lächelte ihn an und streckte die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streichen. Miro klammerte sich an Jenni.
»Ja«, sagte Ina und zog die Hand zurück. »Deshalb wollte er, dass ihr zu Besuch kommt. Um ihn ein bisschen aufzumuntern.«
»Kommt sonst noch wer?«, entschloss sich Jenni zu fragen.
Bevor Ina antworten konnte, erklang das Geräusch eines näher kommenden Autos. Jenni drehte sich um und sah die Scheinwerfer zwischen den Bäumen aufblitzen.
»Lisa«, sagte Ina ausdruckslos.
Jenni hielt den Atem an. Sie suchte Aarons Blick. Um Lisa musste er sich kümmern, diese Bürde durfte er nicht ihr überlassen.
»Lisa ist eine große Hilfe«, fuhr Ina fort, als hätte sie die Unruhe ihrer Schwester nicht bemerkt. »Anfangs hat sie nicht verstanden, dass Markus hier wohnen muss. Sie hätte ihn lieber selbst gepflegt, in der Stadt, aber das war nur der erste Schock. Inzwischen kommt sie oft her. Sie kümmert sich um Markus, wenn ich arbeite.«
Wenn ich arbeite , wiederholte Jenni in Gedanken und wünschte, sie hätte sich verhört. Aber nein. Sie musste die Tatsache akzeptieren, dass Ina und Lisa in den letzten Jahren regelmäßig miteinander zu tun gehabt hatten. Dass sie sich nahestanden. Aus irgendeinem Grund hatte sie glauben wollen, dass es Markus damals, vor Jahren, gelungen war, seine Mutter endgültig von sich zu stoßen. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Kraft der Mutterliebe unterschätzt, obwohl sie doch wusste, dass diese in jede Faser der Seele eingewebt war.
Aaron war an der Hausecke stehen geblieben, die Hände auf den Hüften, und betrachtete den Himmel. Jenni war sicher, dass er den Wagen gehört und erraten hatte, wer ihn fuhr. Alberne vorgetäuschte Geringschätzung, die Jenni zwang, sich der Situation allein zu stellen.
Lisa stieg langsam aus, als ob sie ihre Bewegungen bewusst zügelte. Ihr Blick verweilte kurz auf Jenni, kehrte dann aber ins Wageninnere zurück. Sie beugte sich vor, um etwas aus dem Auto zu holen.
»Ein herrlicher Tag.«
Lisas Stimme hatte keine Resonanz, sie wurde von den Autopolstern gedämpft. Ihr Tonfall war erschreckend leicht. Ein herrlicher Tag? Sie meinte wohl das Wetter.
Lisa richtete sich auf, einen kleinen weißen Koffer in der Hand, und schlug die Tür zu. Sie musterte Jenni nun ungeniert und eindringlich wie eine Kriminelle bei der Gegenüberstellung. Ihre Miene war eiskalt. Jenni sah den weißen Koffer an. Sie kannte ihn von irgendwoher, aber die Gedanken und Erinnerungen schossen ihr so ungeordnet durch den Kopf, dass sie sie nicht in den Griff bekam. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie würde es nicht aushalten. Diese Leute würden sie durchschauen, sie würdensich zuerst fragen, warum sie Miro mitgebracht hatte, und dann begreifen, dass sie ihn als Schutzschild brauchte. Vor dem Kind würden wohl alle darauf verzichten, Jennis Schwäche ans Tageslicht zu zerren und sie mit moralischer Überlegenheit zu erdrücken.
»Jenni«, sagte Lisa und kam näher.
Jenni war zu keiner Antwort fähig.
Lisa hatte sich aufgedonnert, das sah Jenni, und sie begriff auch, dass es ein Zeichen der Unsicherheit war. Der Versuch einer alternden Frau, einen gewissen Charme zu zeigen, wenn sie ihrem ehemaligen Mann und dessen junger Frau gegenübertreten musste. Doch der Gedanke half Jenni nicht.
»Lisa«, sagte Aaron plötzlich.
Jenni bemühte sich, das Zittern in ihrem linken Bein zu unterdrücken. Sie versuchte sich einzureden, dass dies hier nichts
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