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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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der Situation zu entziehen. Sie überlegte fieberhaft, was sie Miro erzählen sollte, darüber hatte sie nachgedacht, seit sie die Einladung bekommen hatten. Wie sie ihm vorlügen müsste, alles sei normal und ausgeglichen. Wie sie auch die anderen zu dieser Lüge verpflichten würde. In Anwesenheit des Kindes ging es doch nicht anders.
    »Er heißt Markus, und er hatte einen Unfall«, sagte sie. »Er war schwer verletzt. Deshalb hat er den Schnitt im Gesicht.«
    »Geht er weg?«
    Jenni wusste nicht, ob Miro den Schnitt oder Markus meinte, doch sie antwortete: »Nein, er bleibt.«
    Jenni merkte, dass Aaron sich Markus näherte und zielstrebig ans Tischende ging.
    Vater und Sohn sahen sich an, durch den Tisch getrennt. Jenni hatte das Gefühl, dass Aaron keinen Schritt mehr machen durfte. Sonst würden die Teller zerspringen, die Fenster würden bersten, ein Vogelschwarm würde hereinfliegen.
    Markus’ Blick veränderte sich nicht, wich nicht von seinem Fixpunkt ab. Aaron war wagemutig direkt in die Blicklinie getreten.
    Vielleicht erkannte Markus seinen Vater, vielleicht auch nicht. Jenni sah an Aarons Gesten, dass er schon auf der Fahrt beschlossen hatte, seinem Sohn auftrumpfend gegenüberzutreten, dass er die Situation in Gedanken wieder und wieder durchgespielt hatte wie eine brisante Wortmeldung im Stadtrat. Kein Zaudern, keine Demut. Angst ist weithin zu riechen.
    »Sie sind da, Markus«, sagte Ina. »Erinnerst du dich, wie du gesagt hast, dass du deinen Vater und Jenni sehen möchtest? Dass wir alle zusammen sind?«
    Markus starrte nur vor sich hin. Jenni war in gewisser Weise erleichtert, dass er Inas Worte gar nicht zu hören schien. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Markus an der Unfallstelle gefangen war, an jenem Tag vor sechs Jahren. Vielleicht wäre sein Körper gern weitergegangen, weg von dem Punkt, wo der Wagen zum Stillstand gekommen war, aber die Haut hing an ihm, erschöpft und resigniert. Von Markus drohte keine Gefahr. Er würde Jenni und Aaron nicht zur Verantwortung ziehen. Er würde nicht darüber urteilen, wessen Sünde schwerer wog.
    Dennoch lauerte die Panik in Jennis Gliedern. Markus’ starre Miene machte alles irgendwie sinnlos. Alles. In diese Augen hatte Jenni früher aus nächster Nähe geblickt. Ihre Finger hatten seine Haut an der Stelle berührt, wo nun die Narbe war. Das beschädigte Gemüt hinter diesen Augen war einmal voller Gedanken und Pläne gewesen, in denen sie eine Rolle gespielt hatte.
    Wenn Jenni nicht Miros Wärme an ihrer Seite gespürt hätte, wäre sie wahrscheinlich zu Boden gefallen und liegengeblieben, hätte darauf gewartet, dass eine Welle sie überrollte und davontrug. Miro hielt sie auf der Erde.
    »Mitunter hat er lichtere Momente, aber immer seltener«, erklärte Ina. »Manchmal ist es schwierig zuzuhören … Die Ärzte sagen, dass …«
    Ina ließ den Satz unvollendet, sammelte Kräfte. Jenni begriff, dass die kühl konstatierende Stimme nur Fassade war, dass sich hinter dem Bericht über die Worte der Ärzte die endlosen Stunden, Tage und Jahre verbargen, in denen Ina auf dieser windgebeutelten Insel Markus’ Delirium angehört hatte.
    »Die Ärzte wissen nicht, warum Markus’ Zustand sich schubweise verschlechtert«, sagte Ina schließlich. »Vermutlich hat der Gehirnschaden irgendeine latente Krankheit zum Ausbruch gebracht. Angeblich scheint Markus’ Körper sich selbst zu vergiften.«
    Ina räusperte sich und gab sich einen Ruck.
    »Aber er war ganz bei sich, als er mich bat, euch die Einladung zu schicken. Es war unglaublich. Als hätte ich Markus für einen Moment zurückbekommen. Er hatte sicher selbst erkannt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Deshalb hatte er es so eilig. Er wollte ausdrücklich, dass ihr alle kommt. Ich habe versucht, ihn danach noch bei mir zu halten, aber er ist wieder weggeglitten.«
    Lisa schluchzte leise. Sie streichelte immer noch die Wange ihres Sohnes, hatte das Gesicht aber von ihm abgewandt.
    »Und wem nützt dieser ganze Zirkus«, sagte Aaron plötzlich, »wenn der Junge gar nicht begreift, dass wir hier sind?«
    Jenni wimmerte unwillkürlich, als müsste sie Aaron am Sprechen hindern. Sie hatte das Gefühl, dass seine Worte alle Luft aus dem Raum sogen.
    Sekundenlang erstarrten alle. Lisa strich Markus über die Haare und ging dann zu Aaron.
    Die Ohrfeige klatschte so laut, dass Jenni zusammenzuckte. Sie spürte Miros verwunderten Blick, sah aus den Augenwinkeln sein hochgewandtes

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