Schatteninsel
Besonderes war, dass solche Begegnungen überall stattfanden. Bestimmt befanden sich gerade in diesem Moment Tausende von Frauen in der gleichen Situation. In Schweden, Frankreich, Honduras, wer weiß wo. Aber nein. Jede dieser Frauen war in ihrer Situation allein, sie selbst am allermeisten.
Lisa ließ Jenni nicht aus den Augen.
»Alte Hexe«, murmelte Miro und lachte vorsichtig, suchte Jennis Blick.
Lisas selbstsicheres Lächeln wurde nicht brüchig.
»Ihr habt den Nachwuchs mitgebracht«, stellte sie fest. »Na, dann lernt er wenigstens, wie in dieser Familie …«
»Gehen wir hinein«, mischte sich Ina ein, die hinter Jenni stand. »Markus wartet.«
Lisa sah Jenni noch eine Weile an, ging dann so nah an ihr vorbei, dass ihre Kleider sich raschelnd streiften.
»Armes Mädchen«, sagte sie mit gleichgültiger, selbstgefälliger Stimme. »Albernes, dummes Mädchen.«
Sie sprach so leise, dass die Worte im Rauschen des Windes und des Meeres untergingen. Dass es irgendwie kindisch gewesen wäre zu antworten. Jenni blieb in Lisas Parfümwolke stehen und überlegte, was sie hätte sagen können. Sie hätte die Frau mit einigen Worten zunichtemachen können, das hatte sie jedenfalls vor der Begegnung geglaubt.
»Jenni«, hörte sie Inas Stimme hinter sich. »Markus wartet.«
Jenni betrachtete das Grundstück und den Wald und das Geröll zu ihren Füßen. Sie dachte daran, dass die Steine allem Möglichen standhielten, Wind, Regen und Blitz. Sie waren immer noch da.
»Komm, gehen wir hinein«, flüsterte sie Miro zu.
−
Ina führte sie ins Haus, nahm ihnen mit fahrigen Bewegungen die Mäntel ab und bat sie näher zu treten. Nach all den Jahren erkannte Jenni die Gesten ihrer Schwester wieder. Das kleine gequälte Lächeln, die unterdrückten Seufzer, die unbeholfene Geschäftigkeit. Inas angestrengte Bemühungen lösten unweigerlich Schuldgefühle aus. Sie würden Jenni bald auf die Nerven gehen. Noch nicht, denn sie spürte die Wärme des Wiedersehens noch in den Fingerspitzen, aber bald.
Der Gedanke verschwand im Nu, als sie die Schwelle zum Speisezimmer erreichten. Jennis Schritt und ihr Atem stockten gleichzeitig.
Markus saß am Ende des gedeckten Tisches in dem großenRaum, dessen fast wandhohe Fenster direkt aufs Meer gingen. Die gedrungenen Formen der Wolken füllten die Landschaft hinter ihm, die Wolken und die Bewegung der bis an den Horizont reichenden Wellen. Jenni merkte, dass ihr Blick immer wieder zum Fenster wanderte, zu den neutralen Naturerscheinungen, die nichts forderten, ihr nichts vorwarfen.
»Die Gäste sind da«, sagte Ina und trat zur Seite, als erwartete sie ein großartiges Wiedersehensfest.
Jenni stand auf der Schwelle, Miro vor sich. Aaron war irgendwo hinter ihr. In ihren Ohren dröhnte es. Die Szene, die sie sich tausendmal ausgemalt hatte, war ganz anders als erwartet. Sie hatte sich immer vorgestellt, es gäbe Worte, aufgeregtes Reden, von jemand anderem als von ihr. Stattdessen herrschte quälendes Schweigen. Das Surren einer Haushaltsmaschine in der Küche. Das Knacken der Fensterfugen im Wind.
Es fiel Jenni schwer, die Gestalt am Tisch mit dem Markus zu verbinden, den sie gekannt hatte. Seine Wangen waren eingefallen. Das Narbengewebe in der einen Gesichtshälfte sah zunächst aus wie von einem Lichtstrahl gezeichnet, der durch die Vorhänge fiel. Es schnitt die Lippen auf der linken Seite, sodass der Mund ständig ein wenig geöffnet war, als wäre Markus im Begriff, etwas zu sagen. Die zerknitterte Anzugjacke saß schief, die eine Schulter hing herunter. Anfangs hatte es den Anschein gehabt, dass Markus die Besucher erkannte, dass das winzige Lächeln ihnen galt. Der Schmerz in Jennis Brust war sofort aufgeflammt, hatte den Bauch und die Glieder erfasst, war fast zur Panik geworden.
Doch Markus’ Blick bewegte sich nicht. Er blieb auf einen Punkt vor der Menschengruppe gerichtet, vielleichtauf die Tischdecke. Das Lächeln war starr wie das einer Puppe. Hinter dem Fenster brachen sich die kleinen Wellen, setzten eine Schaumkrone auf und verschwanden lautlos zwischen den Uferfelsen.
»Liebling«, sagte Lisa und ging zu Markus, legte ihre Hand an seine Wange.
Aus den Augenwinkeln sah Jenni, dass Aarons Schultern sich kurz hoben. Es war nur eine kleine Bewegung, der einzige Hinweis auf eine Gefühlsaufwallung.
»Warum ist der so hässlich?«, fragte Miro. Zum Glück war es nur ein vorsichtiges Wispern.
Jenni beugte sich zu dem Jungen herab, hauptsächlich, um sich
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