Schatteninsel
Gesicht.
Lisa ging mit hängenden Schultern an Aaron vorbei, erschöpft von dem jahrelang zurückgehaltenen Schlag. Aaron blickte stur geradeaus. Plötzlich konnte Jenni sich vorstellen, wie er als junger Mann ausgesehen hatte, bei der Armee, wo man ihm beigebracht hatte, mit straffer Haltung und unbewegtem Gesicht durch alle Widrigkeiten hindurchzuschreiten. Der Gedanke löste eine so heftige Zärtlichkeitswelle aus, dass sie am liebsten alle anderen aus dem Zimmer gejagt und den kühnen jungen Mann umarmt hätte, dem noch keine Haare aus den Ohren wuchsen.
Ina lächelte und sah Jenni an, als wäre nichts vorgefallen. Oder als wäre genau das passiert, worauf sie seit Jahren gewartet hatte.
»Wir sind es Markus wohl schuldig zu warten«, sagte sie leichthin, fast fröhlich. »Warten wir, bis er hört, was wir zu sagen haben, und bis er selbst sagen kann, was er loswerden will. Was macht es schon, wenn es ein paar Tage dauert? Wir haben Zeit. Markus nicht.«
Aaron hüstelte und stemmte die Hände wieder in die Seiten wie zuvor, als er das Haus abgeschätzt hatte.
»Ich zeige euch euer Zimmer«, sagte Ina. »Kommt.«
Ina führte sie ins Obergeschoss. Jenni nahm Miro an der Hand, und Aaron folgte ihnen dichtauf. Er wollte wohl nicht riskieren, dass Lisa, die irgendwohin verschwunden war, ihm auflauerte. Jenni stellte sich vor, wie Lisa in einem leeren Zimmer stand, vielleicht auch in der Küche,und vor Wut zitternd aus dem Fenster schaute. Sicher war sie so oft hier zu Besuch gewesen, dass man ihr den Schlafplatz nicht zu zeigen brauchte. Womöglich wohnte sie halb in diesem Haus.
Aus irgendeinem Grund war Markus über seine Eltern immer verbittert gewesen, aber Lisa hatte er in Jennis Beisein nur ein einziges Mal kritisiert. Das war um die Zeit gewesen, als er das Haus gekauft und sich auf die Insel zurückgezogen hatte. Lisa ist ein egoistischer kleiner Mensch , hatte er gesagt. Weiter nichts, aber das Urteil war hart genug gewesen.
Jenni wusste, dass Markus viel getan hatte, was sowohl Aaron als auch Lisa veranlasst hatte, Abstand zu ihrem Sohn zu halten. Aber sie begriff auch, dass Lisa von einem bodenlosen Schuldgefühl beherrscht sein musste, jetzt, wo ihr Kind in einen Zustand der Unerreichbarkeit abglitt. Die egoistische kleine Lisa, deren Mutterinstinkt wohl zu spät zurückgekehrt war, erst dann, als ihrem Sohn nicht mehr zu helfen war, als er von Ina versorgt werden musste.
Jenni schaute vom Treppenabsatz nach unten und sah, dass Markus’ Stuhl leer war, ordentlich an den Tisch gerückt. Sie überlegte, ob sie es Ina sagen sollte, vermutete aber aus irgendeinem Grund, ihre Schwester würde sich darüber nur ärgern. Immerhin war sie bisher ohne Jennis Hilfe ausgekommen.
»Hier ist Markus’ Arbeitszimmer«, sagte Ina und strich mit den Fingerspitzen über die dunkelbraune Holztür, an der ein Schild in Frakturschrift hing: Sinnlos anzuklopfen, ich bin im Keulenkrieg . Historikerhumor, vermutlich. Markus’ Werk über die Hexenverfolgung war zu seiner Zeit recht erfolgreich gewesen. Zumindest so lange, bis ein neidischer Kollege den Inhalt als frei erfunden bezeichnetund Markus Quellenfälschung vorgeworfen hatte. Jenni hatte das Buch nie gelesen und wohl auch nicht ganz begriffen, wie ernst die Vorwürfe waren. Aber sie erinnerte sich an die dunkle Zeit, die der Vorfall ausgelöst hatte. Sie war überzeugt, dass der Kauf des Hauses und der Rückzug auf die Insel im Grunde darauf zurückzuführen waren. Zu jener Zeit hatte Markus Jenni nicht mehr um Rat gefragt, ganz gleich, worum es ging. Die Meinung einer arbeitslosen Physiotherapeutin war offenbar entbehrlich, bei Auseinandersetzungen unter Historikern ebenso wie beim Hauskauf.
»Markus war auch nach dem Unfall noch oft hier drin«, sagte Ina. »Schließlich musste ich die Tür abschließen, denn meistens wurde er nur deprimiert, wenn er die unvollendeten Arbeiten sah. Besser warten wir ab, ob vielleicht …«
Das ob hing in der Luft, und Ina schien nicht an der Tür vorbeigehen zu können. Vielleicht war ihr klar, wie trügerisch es war, sich Hoffnung zu machen.
»Die Arbeit war immer sein Ein und Alles«, meinte Jenni.
Ina nickte.
»Mag sein«, sagte sie resigniert. Jenni merkte, dass Ina keine Vorstellung davon hatte, wie Markus vor dem Unfall gewesen war. Sie war erst in sein Leben getreten, als er bereits alles verloren hatte. Jenni, die Herrschaft über seinen Verstand, seine Unabhängigkeit.
Ina ging weiter. Als Jenni an der Tür
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