Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
vorbehalten war, und auch das nur, wenn sie mindestens zehn Kilometer Wald zwischen sich und der Stadt zurückgelegt hatten.
Am Montag hatte Anja ihn angerufen. Sie hatte sich nicht gemeldet, seit er im Frühsommer mit ihr Schluss gemacht hatte, aber jetzt wollte sie mit ihm im Rosenzug gehen. Als ob alles zwischen ihnen so wäre wie früher. Sie weinte am Telefon und redete eine Menge Blödsinn über die Zerbrechlichkeit des Lebens und darüber, dass man die Liebe bewahren müsse.
Joachim war in keinem Rosenzug mitgegangen.
Er hatte ihr nicht einmal gesagt, dass Sander tot war.
Joachim Boyer kannte keines der Opfer aus dem Regierungsviertel oder von Utøya. Das ganze Gerede von »OsLove« würde nicht lange vorhalten, das wusste er. Die Terroranschläge waren entsetzlich, und das Monster gehörte für den Rest seines Lebens hinter Gitter, aber Joachim Boyer wusste, dass die meisten zur Normalität zurückkehren würden, sowie das letzte Opfer begraben und die vielen Trauerfeiern endlich überstanden wären. Es war typisch für Norweger, sich um Frieden, Freiheit, Rosen und Demokratie zu sammeln, wenn sie einer solchen Katastrophe gegenüberstanden. Als es sich herausgestellt hatte, dass dieser Scheißschwule aus dem Westend kam, blond, blauäugig und ein Versager, war die Reaktion so vorhersagbar gewesen, dass es Joachim fast schlecht wurde, wenn er daran dachte. Der Angriff war von innen gekommen, und die Gesellschaft stand unter Schock. Hätte ein Muslim dahintergesteckt, wie zunächst alle geglaubt hatten, hätte niemand auch nur den Schatten einer blöden Rose gesehen. Joachim war in Veitvet in Groruddalen aufgewachsen, in einer Clique von Jungen aus acht verschiedenen Nationen. Er kümmerte sich kaum um Politik, das war wirklich das Einfachste, aber seine Jugendjahre hatten ihn gelehrt, dass es Arschlöcher in allen Farben gibt. So wie Menschen, auf die man sich verlassen kann. Wenn irgendwer eine Demonstration gegen den ganzen rassistischen Dreck veranstaltete, dem viele seiner Freunde ausgesetzt waren, würde er begeistert mitmarschieren. Aber nein. Obwohl die Vorstellungen des Monsters sich, nach dem wenigen, was Joachim darüber gehört hatte, durchaus mit denen Hitlers messen konnten, wagte kaum jemand, jetzt den Mund aufzumachen. Und wirklich zu sagen, was Sache war. Stattdessen standen sie da, Ministerpräsident und König und die ganze Bagage, und faselten von Liebe und Offenheit, während die Leute mit Rosen wedelten und weinten. Obwohl nur die wenigsten den wirklich Betroffenen begegnet waren. Er konnte nicht begreifen, warum sie eigentlich weinten. Er selbst war, soweit er überhaupt eine Meinung zu dem Terroristen hatte, nur wütend. Und er fand, das hätten alle sein sollen.
Anja hatte sich seinen Wutausbruch angehört, geschrien, er sei ein Zyniker, und den Hörer auf die Gabel geknallt.
Joachim bog vom Grefsenvei in den Glads vei ab. Zwei Mädchen von vielleicht zehn Jahren fuhren nebeneinander mit Tretrollern mitten auf der Straße und ließen ihn nicht vorbei. Er drückte auf die Hupe. Sie reagierten nicht sofort, zuckten nicht einmal zusammen, aber er konnte sehen, dass sie miteinander redeten. Dann sprangen sie ab, hoben ihre Roller mit der rechten Hand und zeigten ihm mit der linken den Finger, wie in einem sorgfältig einstudierten Ritual. Er presste die Handfläche auf die Mitte des Lenkrads und antwortete mit einem ewig langen Hupen, ehe er an ihnen vorbeifuhr. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass sie sich vor Lachen krümmten.
Eigentlich interessierte er sich nicht für Kinder.
Sie nervten. Waren oft frech, vor allem Mädchen. Wenn sie noch klein waren, zwei oder drei Jahre alt, konnten sie in geringer Dosierung niedlich sein. Sander war anders gewesen. Anfangs, als Joachim zum allerersten Mal mit zu Jon gefahren war, hatte er sich ganz bewusst bei dem Jungen eingeschmeichelt. Er wollte bei seinem Chef Eindruck machen. Mit Squash hatte alles angefangen.
An einem von Joachims allerersten Arbeitstagen bei Mohr und Westberg hatte Jon gefragt, ob er Squash spiele. Joachim hatte gelogen und Ja gesagt. Squash war dermaßen Neunzigerjahre, fand er. Er selbst fuhr im Sommer Rad, machte im Winter Langlauf und stemmte das ganze Jahr Gewichte. Ab und zu traf er sich mit der alten Clique aus Veitvet zum Fußball. Squash war wie Tennis, fand Joachim, ein Spiel für Weicheier. Ein älterer Cousin aber gab ihm einen zweistündigen Einführungskurs vor seinem ersten Spiel mit Jon, und
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