Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
gewesen.
Jetzt aber hatte er sich in einem Chaos verfangen, aus dem er keinen Ausweg sah.
Als er dort stand, auf der Treppe zur Villa von Ellen und Jon, mit Oslo unter einer Gutwetterdunsthaube vor sich und weit draußen dem Fjord mit Segelbooten und Ausflugsschiffen, sehnte er sich für einen überraschenden Augenblick zurück in die sorglosen Sommer seiner Kindheit.
Jetzt hätte er so gern so vieles ungeschehen gemacht.
Vielleicht konnte er einige seiner Dummheiten noch korrigieren.
Er nahm die Treppe mit wenigen Sprüngen. Da die Klingel defekt war, öffnete er die Haustür und steckte den Kopf hindurch, mit der Hand auf der Klinke.
»Hallo? Ellen? Bist du da?«
»Komm rein«, hörte er ihre Stimme aus der Küche.
Er ging hinein, schob sich die Sonnenbrille in die Haare und bückte sich. Der Schnürsenkel des einen Turnschuhs hatte sich gelöst.
»Hier«, rief sie noch einmal. »Ich bin hier drinnen.«
Joachim versuchte, nicht zu Sanders Zimmer hinüberzuschauen. Er gab den Schnürsenkel auf, streifte die Schuhe ab und folgte Ellens Stimme.
Die Küche war von Sonnenlicht überflutet. Ellen saß mit einer Zeitung und einer Kaffeetasse am Tisch. Joachim schnupperte und nahm einen Stuhl.
»Rauchst du neuerdings?«, fragte er und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster.
»Nein«, antwortete sie. »Ich hatte nur kurz Besuch. Wozu noch auf das Rauchverbot pochen, jetzt, wo Sander nicht mehr da ist?«
»Dann hat dein Besuch seine Zigaretten vergessen«, sagte er und nickte zur Arbeitsfläche hinüber, wo vier Kippen in einem Aschbecher neben einer Packung Marlboro und einem Einwegfeuerzeug stanken.
»Kaffee?«, fragte sie kurz. »Du bist früh dran. Wir waren für zwölf verabredet, oder nicht?«
»Nein. Elf. Und nein danke, was den Kaffee angeht. Hast du was Kaltes? Mineralwasser? Oder auch Leitungswasser?«
Ellen erhob sich und ging mit ihrer Tasse zum Kühlschrank. Die Tasse dampfte, dennoch öffnete Ellen die Tür und stellte die Tasse hinein, ehe sie ein Glas aus dem Schrank nahm und es mit Eiswürfeln aus einem Spender im Kühlschrank füllte.
»Du solltest nichts Warmes in den Kühlschrank stellen«, sagte Joachim und atmete noch immer in kurzen Zügen durch die Nase. Irgendetwas versteckte sich unter dem Geruch des verbrannten Tabaks.
»Natürlich nicht«, murmelte sie. »Wie dumm von mir.«
Statt die Tasse wieder aus dem Kühlschrank zu nehmen, füllte Ellen das Glas mit Leitungswasser.
»Hier. Ich fürchte, sonst habe ich nicht viel anzubieten.«
»Kein Problem«, sagte er und wusste plötzlich, was das für ein Geruch war. »Trinkst du etwa, Ellen? Es riecht nach ... Schnaps.«
»Nur ein kleiner Kaffee ... mit Schuss. Nennt man das nicht so? Nur für die Nerven.«
»Um elf Uhr morgens?«
Er war eher überrascht als geschockt. Schließlich ging es ihn nichts an, wie Ellen ihren Kummer betäubte. Die Tasse im Kühlschrank war offenkundig nicht die erste, die sie sich an diesem Morgen gebraut hatte. Ihr Blick war verschwommen, und ihre Hände zitterten ein wenig. Das würde es ihm vielleicht leichter machen, sein Vorhaben auszuführen.
»Wie geht es dir denn?«, fragte er leise.
»Nicht so gut.«
»Das verstehe ich.«
Und das stimmte. Er verstand sie.
Trauer war etwas, das Joachim Boyer noch nie erlebt hatte, und deshalb hatte er einige Tage gebraucht, um seine Empfindungen mit einem Namen zu belegen. Der Schock am Freitagabend, das Unbehagen angesichts des so übel zugerichteten Sander war eine Sache. Das bohrende Gefühl im Zwerchfell, das ab und zu herauswollte und seinen Blick trübte, war noch einmal etwas ganz anderes. In der Nacht hatte er Klonken hervorgeholt. Der Geruch des grünen Schweines und die samtige Weichheit des Stoffes unter seinen Fingern hatten ihn zum Weinen gebracht, richtig zum Weinen, zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Das verwirrte ihn und machte es schwer, klar zu denken.
»Wann ist die Beerdigung?«, fragte er.
»Das gehört zu den vielen Dingen, die ich nicht weiß. Die Polizei gibt ihn erst frei, wenn ...«
Sie starrte aus dem Fenster und legte die Handflächen auf den Tisch.
»Ich weiß nicht, wann wir Sander zurückbekommen«, flüsterte sie. »Ich wünschte, wir könnten es hinter uns bringen. Jetzt sitze ich nur hier, in einer Art Vakuum, ohne etwas zu tun, ohne jemanden, mit dem ich reden kann.«
»Im Moment bin ich ja hier. Und du hattest doch heute schon Besuch.«
Ihr Blick traf endlich seinen. Ihre Augen waren rot und klein. Er sah
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