Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
gemütlich und schaute den Gast misstrauisch an. Haldis Grande fing an, ihr den Rücken zu streicheln. Eine Zeit lang war das Schnurren der Katze das einzige Geräusch im Zimmer.
Henrik Holme legte die Faust an den Mund und räusperte sich.
»Es kam vor ...«, erinnerte er sie.
»Es kam vor, dass er einfach abwinkte.«
»Wie das? Was hat er gesagt?«
»Nur eine Kleinigkeit. Oder so ungefähr. ›Nur eine Bagatelle‹, glaube ich, hat er gesagt.«
»Hat er auch den Armbruch eine Bagatelle genannt?«
»Welchen Armbruch?«
»Er hatte sich im April den rechten Arm gebrochen.«
Diese Auskunft war eine der wenigen, die er der Großmutter des Jungen hatte entlocken können, ehe sie am Vortag wütend geworden war und ihm die Tür gewiesen hatte.
»Ja«, sagte Haldis Grande zögernd. »Das stimmt.«
»Was hat Sander darüber gesagt?«
»Das weiß ich jetzt wirklich nicht mehr. Er fand es wohl wichtiger, alle auf seinen Gips schreiben zu lassen.«
»Versuchen Sie es«, sagte Henrik leise. »Versuchen Sie, sich zu erinnern.«
»Es fällt mir einfach nicht mehr ein.«
»Meinen Sie, das kann daran liegen, dass er gar nichts gesagt hat?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn er es Ihnen erzählt hat, muss es doch irgendwie dramatisch zugegangen sein. Und das würden Sie noch wissen, oder?«
Haldis Grande gab keine Antwort. Die Katze stand auf, machte einen Buckel und sprang von ihrem Schoß auf den Boden.
»Es kommt doch nicht so oft vor, dass ein Kind sich den Arm bricht«, sagte der Polizist jetzt. »Es ist doch seltsam, dass Sie sich drei Monate später an eine so dramatische Angelegenheit nicht mehr erinnern. Wenn Sander da nicht nur abgewinkt, es als Bagatelle bezeichnet hat.«
Sie gab noch immer keine Antwort. Der lange königsblaue Pullover war von Katzenhaaren übersät, und sie wischte zerstreut mit beiden Händen daran herum.
»Oder nicht?«, fragte Henrik, als das Schweigen unangenehm lang wurde.
Endlich legte sie ruhig die Hände in den Schoß und schaute auf.
»Vielleicht«, sagte sie leise. »Möglicherweise haben Sie recht.«
»Das glaube ich auch.« Er nickte. »Und jetzt lasse ich Sie in Ruhe.«
Er erhob sich, und Haldis Grande kämpfte sich vom Sofa hoch.
»Aber ich glaube noch immer nicht, dass Sie mit Ihrem Verdacht richtig liegen«, sagte sie, als sie ihn zur Tür brachte. »Wenn Sie ihn mit seinen Eltern gesehen hätten, würden Sie keinen von beiden verdächtigen. Das alles ist natürlich eine entsetzliche Tragödie, aber ich kann mir unmöglich vorstellen, dass Sander vielleicht ...«
Sie schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf, statt den Satz zu beenden. Henrik Holme steckte den leeren Notizblock und den Stift in den Rucksack, öffnete die Haustür und drehte sich halb zu ihr um.
»Genau deshalb passiert so was ja«, sagte er ernst. »Wir wollen es alle nicht glauben. Wir lassen es geschehen.«
Sie starrte ihn mit einem Blick an, den er nicht richtig deuten konnte. Erst als er sich höflich für Tee und Plätzchen bedankt und als sie sorgfältig die Tür hinter ihm abgeschlossen hatte, begriff er, was ihre Miene ihm gesagt hatte.
Haldis Grande bereute. Nicht das, was sie während der beiden Jahre, in denen sie jeden Tag mehrere Stunden für Sander verantwortlich gewesen war, getan oder nicht getan hatte. Sie wünschte, sie könnte ihr Gespräch mit Henrik Holme ungeschehen machen, und das machte ihn so wütend, dass er losrannte.
4
Inzwischen war Freitag, der 29. Juli, und der Sommer hatte in Ostnorwegen Fuß gefasst. Nach vier Tagen Sonne ließ die Wärme die Aussicht von den Hügeln um Oslo flimmern. Dank der vielen grauen, verregneten Wochen waren Bäume und Pflanzen tiefgrün gefärbt. Am Wegrand stand der letzte Löwenzahn des Jahres, orangegelb mit hochsommerlangen Stengeln. Viele verloren schon ihre Samen. Winzige Fallschirme tanzten im leichten Südwind und wippten dabei auf und ab. Joachim Boyer fuhr mit geöffneten Fenstern nach Grefsen und fühlte sich elend.
Eine Woche war vergangen.
Für Joachim war es sieben Tage her, dass Sander gestorben war. Für das übrige Norwegen war es eine Woche her, dass der Terrorist zugeschlagen hatte. Sogar Joachim, der nur selten Zeit oder Kraft hatte, um sich eine Nachrichtensendung anzusehen, merkte, dass etwas sich verändert hatte. Es gab jetzt eine Freundlichkeit, eine Offenheit zwischen den Menschen, in Geschäften, auf Straßen und Plätzen. Fremde begrüßten einander, was in diesem Land sonst den Wanderern
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