Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
nicht so viel Scheiß gebaut hätte, hätte er jetzt am Strand sein können. An seiner Bräune arbeiten, eine Stunde schwimmen, sich Frauen ansehen. Einen Kumpel anrufen, eine Runde durch die Stadt drehen, wenn die Sonne unterging, noch mehr Frauen treffen.
Er holte tief Luft und atmete mit einem leisen Pfeifen wieder aus.
Es war alles ein einziges Chaos.
Anja hatte immer behauptet, er könne nicht mit Gefühlen umgehen. Damit hatte sie auch nicht unrecht. Er wurde zwar damit fertig, wenn es sein musste, aber er hatte nie eingesehen, wozu es gut sein sollte, seine Zeit mit Grübeln zu vergeuden. Das Leben wurde einfacher, wenn man alles so nahm, wie es kam. Wenn etwas witzig war, machte er damit weiter. Wenn es langweilig wurde, hörte er auf. Als Anja zum Beispiel seine Beziehung zu Sander benutzt hatte, um anzudeuten, dass es vielleicht an der Zeit sei, zusammenzuziehen und an Kinder zu denken, hatte er nur eine Sekunde zu überlegen brauchen, um zu wissen, was für ihn richtig war. Er hatte Spaß mit Sander. Sander war ein Pluspunkt in seinem Leben, nicht nur weil der Junge ihn so sehr bewunderte, sondern auch, weil Joachim im tiefsten Herzen noch immer ein Kind war, das spielen wollte. Er brachte anderen gern etwas bei, oder »spielte es ihnen bei«, wie Sander das genannt hatte. Sander war kein Vorläufer für einen Sohn, sondern der kleine Bruder, von dem Joachim nie gewusst hatte, dass er ihn sich wünschte, ehe sie sich kennengelernt hatten.
Eigene Kinder aber wollte er nicht.
Noch nicht jedenfalls, und schon gar nicht mit Anja. Joachim Boyer war achtundzwanzig Jahre alt, und als Anja zu langweilig und quengelig wurde, hatte er sie durch eine andere ersetzt. So hatte er es gehalten, so lange er sich zurückerinnern konnte. Als Junge war er ein begabter Fußballspieler gewesen und hatte mit fünfzehn Jahren jede Woche vierzehn Stunden trainiert. Das hatte ihm gefallen, und er hatte von einer Karriere als Profi geträumt. Als er mit sechzehn zum ersten Mal nicht in die Kreismannschaft aufgenommen wurde, hörte er sofort auf. Ohne auch nur einmal zurückzublicken. Er bereute es nie. Wenn er nicht bei den Besten sein konnte, hatte es keinen Sinn. Nach der vorletzten Klasse am Gymnasium hatte er einen Sommerjob als Sportreporter bekommen. Er lieferte so viel Stoff, dass ihm eine längere Vertretung angeboten wurde. Unter dem lauten Protest seiner Eltern nahm er an und ging von der Schule ab. Drei Jahre darauf hatte er es bis zu einer Illustrierten geschafft, wo er mehr verdiente als seine Eltern zusammen, danach war er als Kriminalreporter zu einer Tageszeitung gewechselt. Blitzschnell spezialisierte er sich dann auf Wirtschaft. Nach nur acht Monaten hatte er eigenhändig drei Wirtschaftsbosse zur Strecke gebracht, zwei wegen Steuerhinterziehung und einen wegen sexueller Belästigung einer ganzen Gruppe weinender Angestellter, die in dem gut aussehenden, verständnisvollen Journalisten, der sich nicht einmal Notizen machte, sondern ihnen tröstend den Arm um die Schultern legte, endlich einen Vertrauten gefunden hatten.
Joachim Boyer hatte keine Angst davor, viel und hart zu arbeiten, aber das Leben sollte Spaß machen. Als eines Tages Jon Mohr anrief und einen Job mit doppelt so hohem Gehalt und allerlei Vergünstigungen anbot, von denen ein Journalist nur träumen konnte, hatte er unmöglich Nein sagen können. Er wusste, wie Journalisten dachten, er konnte ihr Verhalten mit größter Genauigkeit vorhersagen, und nach kurzer Zeit hatte er sich bei Mohr und Westberg mehr oder weniger unentbehrlich gemacht. Die jungen Kollegen mochten ihn, die älteren fanden ihn ein wenig zu eingebildet, und zweimal hatten sie versucht, ihn loszuwerden. Was ihnen nicht gelungen war. Vielleicht, weil das für ihn keine Katastrophe gewesen wäre. Ein Mann wie Joachim Boyer hatte immer Möglichkeiten. Er klammerte sich nirgendwo an, sondern verließ sich auf seine Fähigkeiten. Bisher hatte das immer geholfen.
Anja warf ihm oft vor, ein schlichtes Gemüt zu sein, und auch in diesem Punkt hatte sie recht. Er hatte in einer Gegend, wo ein Drittel seiner Freunde auf die schiefe Bahn geraten war, die beste Kindheit der Welt verbracht. Und das alles verdankte er seiner Fähigkeit, die Dinge leicht zu nehmen. Dem Instinkt zu folgen. Schwarz-weiß zu denken, richtig/falsch, ja/nein. Joachim wollte schlicht sein. Das Leben war nicht sonderlich kompliziert, wenn man nichts richtig an sich herankommen ließ.
So war es bis jetzt
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