Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Zuckerkrümel von den Lippen. »Sie reden vor allem von seiner Mutter. Hatten Sie also hauptsächlich zu ihr Kontakt?«
Haldis Grande lächelte noch immer. Ein schwacher Duft von Maiglöckchenparfüm war bei jeder ihrer Bewegungen wahrzunehmen. Jetzt kämpfte sie mit den Kissen, um besser zu sitzen, und ein Geruch von Blumenladen breitete sich im ganzen Zimmer aus.
»Es gibt bei uns in den Schulen nicht besonders viel Kontakt zwischen Eltern und Lehrern«, sagte sie und klopfte auf ein orangerotes Sofakissen. »Es gibt zweimal pro Jahr einen Elternsprechtag, ebenso viele Entwicklungsgespräche und die eine oder andere Veranstaltung. Ab und zu wird eine Mail verschickt, wenn etwas Besonderes anliegt. Was Sander angeht, kam es natürlich häufiger vor. Und ja, ich hatte vor allem zu seiner Mutter Kontakt. Ich habe den Eindruck, dass Jon Mohr ein viel beschäftigter Mann ist, und seine Frau ist ja nicht berufstätig, wie Sie sicher wissen.«
Henrik nickte und murmelte ein Ja. Er hatte keine Ahnung, was Ellen Mohr so machte. Dass sie nur Hausfrau war, hätte er jedenfalls nicht erwartet.
»Eigentlich seltsam«, sagte er. »Zu Hause zu sein, wenn man nur ein Kind hat, das in der Schule ist, von halb neun bis ...«
»Viertel vor neun«, korrigierte sie. »Die Schule endet jeden Tag um eine andere Zeit, aber die Aktivitätsschule geht bis Viertel vor fünf. Sander war fast immer dabei.«
»Die Aktivitätsschule?«
»Die Freizeitaktivitäten. Hier in Oslo heißt das Aktivitätsschule.«
»Dann war Sander also tagsüber nicht zu Hause, wo sie ja ganz in der Nähe wohnen, von ... vielleicht halb neun, bis um ... fünf? Achteinhalb Stunden jeden Tag. Und dann ist Ellen nicht berufstätig? Ein bisschen altmodisch, oder? Um nicht zu sagen, sehr seltsam?«
Haldis Grande sah ihn mit vorwurfsvoller Miene an, und er senkte den Blick. Sie griff zu ihrer Teetasse und schnupperte an dem leichten Dampf, dann sagte sie: »Ich finde, da steht weder Ihnen noch mir ein Urteil zu. Alle müssen sich das so einrichten, wie sie es haben wollen. Und sie hat jedenfalls alles getan, damit ihr Sohn es in der Schule gut hat.«
Haldis Grande war offenbar nicht nachtragend. Jetzt lächelte sie schon wieder strahlend.
»Und das hatte er! Trotz der mangelnden Erfolge!«
Henrik Holme blätterte in seinem leeren Notizblock.
»Was ist mit Verletzungen?«, fragte er plötzlich.
»Verletzungen? Kinder ziehen sich in der Schule doch dauernd kleinere Verletzungen zu. Sie stolpern auf der Treppe und raufen sich. Im Winter rutschen sie auf dem Eis aus, und im Frühling schürfen sie sich die Knie auf dem Kies wund. Eine große Packung Pflaster und ein Vorrat an tröstlichen Umarmungen ist im Alltag einer Grundschullehrerin so wichtig wie das ABC-Buch.«
»Aber Sander, passierte ihm mehr als den anderen?«
»Nein«, antwortete sie entschieden. »Das würde ich nicht sagen. Jedenfalls nicht, wenn ich ihn mit den wildesten Jungen in der Klasse vergleiche. Mir fällt in diesen beiden Jahren nur ein Fall ein, wo wir die Eltern dazurufen mussten.«
»Und? Was war da passiert?«
Sie konzentrierte sich, und ihre Augen wurden in dem runden Gesicht zu zwei schmalen Spalten.
»Das muss kurz vor Weihnachten gewesen sein. Im vorigen Jahr, meine ich. Die Kinder hatten hinter der Schule eine Rodelbahn angelegt. Mildes Wetter machte sie zwei Tage lang unbrauchbar, dann fror es wieder. Der Boden war spiegelglatt. Der Hausmeister sperrte die Stelle mit Holzböcken und rotem Band ab. Das half natürlich nichts, wie Sie sich denken können. Einige Jungen rissen die Sperren weg, und dann kam es, wie es kommen musste. Sander knallte gegen den Zaun, verlor das Bewusstsein und hatte eine scheußliche Wunde über der Stirn.«
»Und wurde abgeholt?«
»Ja. Seine Mutter war schon zehn Minuten später zur Stelle. Sander kam am nächsten Tag mit einem dicken Verband in die Schule.«
»Am nächsten Tag schon? Wenn er das Bewusstsein verloren hatte, muss er doch eine Gehirnerschütterung gehabt haben. Hätte er da nicht ein paar Tage im Bett bleiben sollen?«
»Sein Vater hat ihn am nächsten Tag gebracht«, sagte Haldis Grande langsam. »Er wartete auf mich, als ich kam, und sagte etwas darüber, dass Sander an den nächsten zwei oder drei Tagen in den Pausen im Klassenzimmer bleiben sollte. Das geht ja an sich nicht, aber wo Sander doch die Betreuerin hatte ...«
»Sein Vater hat ihn gebracht«, unterbrach Henrik Holme sie. »Ist das häufig
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