Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
mit allen Krankenberichten abholen können. Henrik war überrascht gewesen und vielleicht ein wenig enttäuscht, als Jon Mohr sich als dermaßen kooperativ erwies. Das deutete nicht gerade auf Besorgnis darüber hin, was Sanders medizinische Geschichte möglicherweise erzählen könnte.
Dazu bestand auch kaum ein Grund, wie er jetzt wusste.
Er seufzte und öffnete den Umschlag zum dritten Mal.
Sander Mohr war seit seiner Geburt insgesamt elfmal bei Volvat gewesen. Die ersten Jahre kamen Henrik Holme uninteressant vor. Als Sander ein Baby gewesen war, hatten die Eltern wegen akuten Schlafmangels um Hilfe gebeten, sowohl für den Jungen als auch für sich selbst. Die Familie war an einen Schlaftherapeuten überwiesen worden. Beim nächsten Besuch bei Volvat war Sander zwei. Er hatte im Garten in einem Wespennest herumgestochert und war gefährlich oft gestochen worden. Er bekam ein Gegengift gespritzt und wurde danach für vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung in ein Krankenhaus eingewiesen.
Mit drei Jahren hatte er sich die erste Verletzung zugezogen, die für Henrik Holme von einem gewissen Interesse war. Den Unterlagen zufolge war Sander rückwärts die Terrassentreppe hinuntergefallen und mit dem Kreuz auf eine Kante aufgeschlagen. Es war nichts gebrochen, aber er hatte einen breiten blaugelben Streifen quer über dem Rücken.
Henrik zögerte.
Blutergüsse zeigen sich nicht sofort, dachte er. Sein Finger, den er an den Zeilen entlangwandern ließ, während er alles noch einmal las, blieb mitten in einem Absatz stehen, und er zog mit den Zähnen die Kappe vom Marker und färbte die Stelle gelb: Pat. vor 2 Tagen von Terrassentreppe hinuntergefallen. Er zeigte sofort durch Weinen Schmerzen an, ließ sich lt. Vater aber rasch trösten. Pat. war lt. Vater seither sehr aktiv, Pat. wirkt jetzt niedergeschlagen und antwortet nicht auf meine Fragen.
Der Arzt hatte den Jungen zum Röntgen geschickt, und dann nach Hause, mit schmerzstillenden Zäpfchen und der Anweisung, der Junge müsse einige Tage im Bett bleiben. Keine weiteren Fragen. Nicht einmal, warum sie erst nach zwei Tagen gekommen waren.
In den Krankenberichten war außerdem eine doppelseitige Ohrenentzündung verzeichnet, weiterhin zwei Fälle von diffusen Magenschmerzen, für die die Ärzte keine Erklärung fanden, und Windpocken, die die Eltern selbst diagnostiziert hatten, aber sie brauchten eine Krankschreibung, um die Auslagen für einen Urlaub zurückzubekommen, den sie deswegen nicht hatten antreten können.
Und eine größere Brandwunde. Sander hatte am Kamin gespielt, stand im Krankenbericht. Er war knapp über viereinhalb Jahre alt, und auf irgendeine Weise war seine Spielzeugeisenbahn im Feuer gelandet. In einem unbewachten Augenblick hatte er nach dem Zug gegriffen, und ein glühendes Holzscheit war auf seinen Arm gefallen. Die Wunde war zehn Zentimeter lang und fünf breit, mit unregelmäßigen Wundrändern, und stark nässend. Der Krankenbericht war sehr knapp gehalten, fast unvollständig, fand Henrik. Als er das Datum sah, begriff er schon eher, warum der Arzt es so eilig gehabt hatte. Der Besuch hatte am Heiligen Abend stattgefunden, kurz vor Dienstschluss.
Auch die Sache mit der Rodelbahn kam vor. Es war alles ungefähr so dargestellt, wie Haldis Grande es beschrieben hatte. Bei dem Jungen war eine leichte Gehirnerschütterung festgestellt worden, und an der Augenbraue war er mit drei Stichen genäht worden.
Bei den letzten beiden Eintragungen ging es um Armbrüche. Der erste war im September 2009 passiert, und den Unterlagen zufolge war Sander einfach zu Hause im Garten von einem Baum gefallen. Es war ein glatter, sauberer Bruch des linken Armes. Eine Operation war nicht nötig gewesen. Der Arm wurde eingegipst, und der Gips wurde sechs Wochen später entfernt, das war alles.
Als Sander dann im April 2011 abermals wegen eines Armbruchs behandelt werden musste, diesmal am rechten Arm, tauchte im Krankenbericht erstmals die ADHS-Diagnose auf. Diese Diagnose war bereits zwei Jahre zuvor gestellt worden, aber erst jetzt schienen die Ärzte von Volvat wegen Sanders auffälligem Pech nachgefragt zu haben. Aus den kurzen Notizen glaubte Henrik entnehmen zu können, dass der Arzt sich mit der umständlichen Erklärung für diesen neuen Armbruch zufriedengegeben hatte. Am Haus im Glads vei hatte eine Leiter gestanden. Jon Mohr wollte die Dachrinne säubern. Als er zum Mittagessen ins Haus gegangen war, war Sander die halbe Leiter
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