Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
vielen Berichten und Artikeln war, dass sie ihm im Grunde nicht viel mehr sagten, als er sich selbst hätte denken können oder bereits auf der Polizeischule gelernt hatte. Kindesmisshandlung wurde normalerweise in vier Typen aufgeteilt, las er: physische Misshandlung, psychische Misshandlung, Fürsorgeversäumnis und sexuelle Übergriffe. Er begriff diese Einteilung nicht. Das musste sich doch überschneiden? Sexuelle Übergriffe zum Beispiel gingen immer einher mit physischer und psychischer Misshandlung, da war er sich sicher. Unter »Fürsorgeversäumnis« verstand man das »Nichterfüllen der grundlegenden physischen und psychischen Bedürfnisse des Kindes«, las er, aber er begriff nicht, wieso es nötig war, dafür eine eigene Kategorie zu schaffen. Kleine Kinder zu ficken bedeutete ja nun wirklich, auf ihre grundlegenden Bedürfnisse keinerlei Rücksicht zu nehmen!
Er kratzte sich mit beiden Händen am Kopf und schnaubte gereizt.
Einig war man sich darin, dass es in allen Kategorien hohe Dunkelziffern gab. Auch das hatte er schon gewusst. Ihm ging es um etwas anderes.
Henrik Holme suchte nach Informationen darüber, wer misshandelte. Welche Kinder Gewalt ausgesetzt waren. Er suchte nach Anhaltspunkten dafür, dass erfolgreiche Eltern mit schönem Haus, guter Stellung und großem sozialem Netzwerk ebenfalls ihre Kinder verprügeln konnten.
Aber in den Urteilen, die er gefunden hatte, sah es durchaus nicht so aus. Es gab nicht viele, aber die wenigen, die er fand, hatten mit Milieus zu tun, die vom Glads vei weit entfernt waren. Vor allem ein Fall, der jüngste und bekannteste, ein Junge, der irgendwo unten in Vestfold von seinem Stiefvater zu Tode misshandelt worden war. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass die Misshandlungen über einen langen Zeitraum hinweg stattgefunden hatten. Die Polizei hatte die Ermittlungen mehrere Male eingestellt, vermutlich aufgrund nachlässiger Arbeit. Als die Sache dann vor Gericht gekommen und der Stiefvater zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wirkte es unbegreiflich, dass niemand eingegriffen hatte, so lange der Junge noch am Leben gewesen war. Der Junge war im Jahr 2005 gestorben, doch das Urteil wurde erst 2008 gefällt. Erst kürzlich war beschlossen worden, auch gegen die Mutter des Jungen Anklage zu erheben. Sie hatte offenbar nichts unternommen, um der Misshandlung ein Ende zu setzen, das schien sich aus dem Urteil gegen ihren Mann zu ergeben. Der Fall war so tragisch, dass Henrik Holme die Blätter immer weiter wegschob, je mehr er las.
Der Junge war nur acht Jahre alt geworden.
Genau wie Sander.
Er hatte ADHS gehabt, genau wie Sander.
Ansonsten gab es nicht viele Ähnlichkeiten. In der Berichterstattung wirkte die Familie der Mutter durchaus nicht dysfunktional, aber offenbar hatte der Stiefvater die Familienidylle nachdrücklich durcheinandergebracht. So wie Henrik Holme die Urteilsbegründung las, war in dieser Familie wirklich alles aus dem Ruder gelaufen. Geistig verarmt, hatte seine Mutter über solche Menschen gesagt. Er selbst wusste nicht so recht, wie er das nennen sollte. Aber es lag auf der Hand, dass bei der Familie auch materiell nicht alles zum Besten stand.
Henrik hatte Hunger. Er zog einen Schokoriegel aus dem Rucksack und schlang ihn eilig hinunter. Kleine Krümel fielen auf seine Unterlagen. Als er versuchte, sie mit der Handkante wegzustreichen, zeichnete er dünne braune Schokoladenstreifen über den Text.
Familie Mohr im Glads vei litt weder unter materieller noch unter geistiger Armut, so viel stand fest. Auf der Schule hatte Henrik gelernt, dass vor dem Gesetz alle gleich seien, aber er wusste es besser. Noch nie waren vor dem Gesetz alle gleich gewesen. In keiner Hinsicht. Wer Geld und Ressourcen hatte, Kontakte und Netzwerke, war viel besser geschützt gegen Beobachtung und Verfolgung durch Polizei und Behörden.
Vielleicht vor allem in solchen Fällen, dachte er und spülte seinen Schokoriegel mit lauwarmer Cola hinunter. Es war in jeder Hinsicht leichter, sich Einblick in einen Wohnwagen zu verschaffen als in eine riesige, von einer Mauer umgebene Villa.
Die Unterlagen von Volvat, der Privatklinik, bei der Familie Mohr Mitglied war, hatte er überraschend leicht bekommen. Statt sich mit den Formalitäten um Schweigepflicht und andere Hindernisse aufzuhalten, hatte er ganz einfach Jon Mohr angerufen und um dessen Einverständnis gebeten. Zwei Stunden später hatte er in der Klinik einen Umschlag
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