Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
hochgeklettert, hatte das Gleichgewicht verloren und war abgestürzt. Der Arm, oder vielleicht der Pulloverärmel, hatte sich zwischen zwei Leitersprossen verfangen, meinte der Vater. Sander heulte furchtbar, und der Vater kam angerannt. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, riss der Ärmel. Der Arm des Jungen war offenbar weiterhin eingeklemmt. Jedenfalls schrie Sander laut vor Schmerz, ehe er fiel. Die blauen Flecken an seinem Leib stammten vielleicht vom Zusammenstoß mit dem Vater her, der den Fall immerhin hatte abbremsen können.
Ob der Arzt wohl verlangt hatte, auch Jon Mohr zu untersuchen, um festzustellen, ob das mit den blauen Flecken stimmen konnte?
Er versuchte, die Krankenberichte nach einer Art System zu sortieren.
Einen Stapel für Krankheiten. Windpocken und Ohrenentzündungen konnten den Eltern wohl kaum zur Last gelegt werden. Nach kurzem Zögern legte er auch die Episode mit dem Wespennest und die Schlafstörungen zu den Krankheiten. Den Zwischenfall auf der Rodelbahn ebenfalls, da waren die Eltern ja nicht einmal dabei gewesen. Er steckte alle diese Berichte in einen Umschlag, den er dann an den linken Schreibtischrand legte.
Die Verletzungen kamen auf einen eigenen Stapel. Zwei Armbrüche, eine Brandwunde und ein Sturz von der Terrassentreppe. Bei den beiden Fällen von Magenschmerzen war Henrik sich nicht sicher. Er hatte als Kind oft Magenschmerzen gehabt, wenn er sich vor etwas fürchtete. Andererseits konnten Kinder sich vor so vielem fürchten. Ihm selbst hatte es vor allem vor den Tanzkursen und vor Englischklausuren in der Schule gegraust. Schnell legte er die beiden Fälle zu den Krankheiten und verstaute die Mappe in der leeren obersten Schublade des Schreibtisches.
Es klopfte an der Tür. Ein dreimaliges hartes Klopfen.
Vor Überraschung erstarrte Henrik wie auf frischer Tat ertappt.
»Herein«, brachte er endlich hervor.
Ein Mann von etwa fünfzig Jahren öffnete die Tür. Er trat mit zwei Schritten vor den Schreibtisch und streckte die Hand aus. Henrik Holme nahm sie, ohne sich zu erheben.
»Freddy Monsen vom Wirtschaftsdezernat«, sagte der Mann lächelnd und setzte sich auf den Besucherstuhl. »Sie haben versucht, mich zu erreichen.«
»Ja«, sagte Henrik und schluckte.
»Sie haben mir zwei Mitteilungen hinterlassen«, sagte Freddy Monsen fragend und hob die Augenbrauen. »Es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde, aber kurz gesagt: Da draußen ist die Hölle los.«
Er schaute sich in dem kahlen stillen Büro um.
»Klar«, sagte Henrik und versuchte, ruhig zu atmen, damit die Röte sich nicht vom Hals auf sein Gesicht ausbreitete.
Er verfluchte seine Schüchternheit jeden Tag von Neuem. Als Junge war er deshalb über lange Zeit fast ohne Freunde gewesen. Erst als in der zweiten Klasse der Lehrer entdeckt hatte, dass der magere, schweigsame Junge in der letzten Bank unglaublich geschickt im Bauen von Modellen war, hatte Henrik Hilfe bei der Suche nach einer Gruppe bekommen, in der er sich zu Hause fühlen konnte. Er baute Flugzeuge und Schiffe, bekannte Gebäude und phantastische Autos. Anfangs begnügte er sich mit gekauften Bausätzen, aber mit zwölf baute er das Weiße Haus ohne andere Hilfsmittel als Balsaholz, Birkenfurnier, Plexiglas, Klebstoff und Werkzeug nach. Das Modell war so gut gelungen, dass es im Aktivitätssaal der Schule in einem Glaskasten aufgestellt wurde. Es konnte gut sein, dass es noch immer dort stand. Das Bauen machte ihn nicht weniger schüchtern, aber es brachte ihm zwei ebenso nerdige Kumpel und von den anderen so viel Respekt ein, dass er einigermaßen in Ruhe gelassen wurde.
Henrik Holme war in allen Fächern außer den Sprachen gut in der Schule, und seine Noten waren mehr als ausreichend für die Polizeischule. Bei den physischen Aufnahmebedingungen sah es nicht weniger gut aus. Er hatte sich alle Mühe gegeben, um beim Laufen gut genug in Form zu sein, und die Kraftprüfungen schaffte er mit knapper Not. Woran er beim ersten Versuch scheiterte, waren die Übungen im Wasser. Das Schwimmen an sich ging noch einigermaßen, aber nach dem verdammten Ring auf dem Beckenboden zu tauchen war ihm unmöglich.
Henrik Holme war wasserscheu. Er hatte außerdem Angst vor Spinnen. Er mochte Höhen nicht, und beim Anblick größerer Tiere hatte er ernsthafte Probleme. Es reichte, wenn sie größer waren als Katzen, aber das hatte er niemals offen zugegeben. Seine ganze Kindheit hindurch hatte er seine Phobien mit wahrer Meisterschaft
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