Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
flüsterte er.
»Was?«
Tove Byfjord legte die Arme auf den Schreibtisch und stützte sich darauf.
»Dem Tadsch Mahal«, wiederholte Henrik viel lauter. »Einem indischen Prachtbau aus dem siebzehnten Jahrhundert, errichtet von ...«
»Ich weiß, was der Tadsch Mahal ist! Wie bauen Sie den?«
»Wie ich den baue ... ich ... ich brauche zuerst viele Bilder, sehr detaillierte, aus allen Blickwinkeln, auch von oben.«
Tove Byfjord winkte gereizt ab.
»Das ist mir klar. Was ich wissen will, ist, was Sie machen, wenn Sie mit dem Bauen anfangen.«
Henrik konnte nicht begreifen, was sein Hobby mit dem Fall Sander Mohr zu tun haben sollte. Er hatte Tove Byfjord aufgesucht, um ihr von seinem Gespräch mit Elin Foss zu berichten. Die Polizeijuristin hatte die Tür hinter ihm geschlossen, ihn in einen Sessel gedrückt und lange wortlos zugehört. Dann, einfach so, stellte sie diese Fragen nach seinen Modellen.
Das machte ihm größere Angst, als wenn sie ihm Vorwürfe gemacht hätte. Mit denen hatte er gerechnet, und er hatte sich darauf vorbereitet. Das hier aber konnte er nicht begreifen, und er merkte, wie in ihm Panik aufstieg. Der letzte Panikanfall war so lange her, dass er sein Gedächtnis nach Strategien durchsuchen musste, nach Regeln und Atemübungen und Tricks, an denen er während seiner ganzen Jugend herumgefeilt hatte, um Anfälle zu mildern oder zu vermeiden.
»Ich brauche eine Platte, auf der ich es bauen kann.«
Seine Stimme war kaum zu hören.
»Und eine Stelle, wo das Modell ungestört stehen kann, viele Monate, während ich daran arbeite.«
Tove Byfjord nickte kurz.
»Danach zeichne ich einen Umriss mit den genauen Proportionen. In den Umriss muss ich ein Gerüst einbauen. Eine Stütze für die Fassade, sozusagen. Ich muss alles ganz genau planen, denn wenn die Fassaden montiert werden, dürfen die Fenster ja nicht ...« Er starrte auf den Tisch, aber ihr Schweigen ließ ihn aufblicken.
»Haben Sie das so gemeint? Was ich mache, wenn ich ...«
»Reden Sie einfach weiter.«
»Die Fenster im fertigen Modell müssen ... Wenn man in ein Fenster oder andere Öffnungen schaut, darf man das Gerüst nicht sehen.«
»Das Gerüst ist also ein wichtiger Teil der Arbeit?«
»Mm.«
Er nickte und starrte wieder die Tischplatte an, als Tove Byfjord sagte: »Wenn das Modell fertig ist, dann müssen Stützen und Gerüst so unsichtbar wie möglich sein. Das Modell soll doch die Leute beeindrucken. Aber ohne Gerüst kein Modell. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja.«
»Und das können Sie gut?«
»Ziemlich gut. Ich mach das schon lange. Hab mit fünf angefangen.«
»Und warum haben Sie daraus dann nichts gelernt?«
»Was?«
»Warum ...«
Pause.
»... haben ...«
Pause.
»... Sie in all diesen Jahren verdammt noch mal daraus nichts gelernt?«
Henrik atmete zu schnell, das merkte er jetzt. Fingerspitzen und Füße prickelten, und ihm wurde schwindlig. Sein Herz hämmerte dermaßen, dass er glaubte, er würde hier und jetzt sterben. Ihm kamen die Tränen. Eine heftige Übelkeit machte es ihm unmöglich, den zähen Schleim in seinem Hals hinunterzuschlucken.
»He«, sagte Tove Byfjord jetzt mit einer ganz anderen Stimme, sie schien sehr weit weg zu sein. »Ist alles in Ordnung? Henrik? Henrik!«
Ehe er sich’s versah, drückte er sich mit der rechten Hand eine Plastiktüte auf den Mund. Tove Byfjord hockte neben seinem Sessel und hatte eine Hand auf seine gelegt.
»Ruhig«, sagte sie wieder und wieder. »Laaaange, tiiiiiefe Atemzüge.«
Alles wurde leichter. Sein Herz nahm sich zusammen. Er konnte wieder atmen, obwohl seine Zunge ihm noch immer zu groß und viel zu trocken vorkam. Er nahm die Plastiktüte vom Mund und atmete zweimal tief durch.
»Nicht böse sein«, sagte er und spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Rasch wischte er sie mit dem Handrücken ab.
»Tut mir leid«, sagte sie und richtete sich auf, ohne seine Hand loszulassen. »Ich wusste ja nicht, dass Sie ...«
»Man müsste hier im Haus doch miteinander reden können wie unter Kollegen«, sagte er leise. »Ich habe nie verstanden, wozu es gut sein soll ...«
Sie ließ seine Hand los und ging ruhig zu ihrem Sessel zurück.
»Geht’s wieder besser?«
»Ja.«
»Ich habe Sie nach Ihren Modellen gefragt, weil Sie eben eine solide polizeiliche Ermittlung beschrieben haben. Begreifen Sie das nicht? Das fertige Modell zeigen wir vor Gericht. Damit es für eine Urteilsverkündung reicht, müssen wir
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