Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Tee nach, der so stark nach Erdbeeren roch, dass das Aroma den ganzen Raum füllte. »Nicht richtig, meine ich. Kasper hat viele in der Klasse, die ihm viel näher stehen, aber da Ellen und ich alte Freundinnen sind, dachte ich, ich könnte nicht Nein sagen.«
»Wozu denn?«, fragte Inger Johanne.
»Dazu, dass er ab und zu hier war. Nicht oft. Vielleicht einmal im Monat.«
Von der Wand über dem Sofa in der Villa im Kapellvei lächelte der acht Jahre alte Kasper Kaspersen von einem riesigen Foto auf Inger Johanne herab. Er stand darauf mit zwei älteren Schwestern, alle drei weißblond und blauäugig, vor einem kreideweißen Hintergrund, und streckte wie in einer Art Pseudogymnastik Arme und Beine von sich, mit Blick in die Kamera. Zwischen ihnen saß ein Riesenschnauzer mit weit aufgerissenem Maul, hellroter Zunge und schräg gelegtem Kopf. Das eine Mädchen hatte eine kohlschwarze Katze auf der Schulter. Inger Johanne verspürte einen vagen Widerwillen gegen dieses Bild, diese posierende Quasi-Idylle, die vermutlich eine Sekunde später in chaotische Auflösung übergegangen war.
»Du hast vorhin gemeint, sie waren sehr verschieden«, sagte sie.
Marianne schniefte ein wenig und tupfte sich mit einer Serviette die Nase.
»Beifußallergie«, erklärte sie. »Es wird jedes Jahr schlimmer. Meine Schwester, die, die mit dem Muslim verheiratet ist, leidet unsäglich. Unter der Allergie, meine ich. Nicht unter dem Muslim.«
Sie lachte dasselbe Lachen, mit dem sie immer alles und alle begrüßt hatte. Marianne war auf der Weiterführenden Schule die schlechteste Schülerin in der Klasse gewesen, ja beinahe das, was Inger Johanne in Gedanken, aber nur dort, als dumm bezeichnet hatte. Dennoch hatte Marianne immer zur Clique um Ellen Krogh gehört. Marianne nahm das Leben, wie es kam. Sie schaffte es auf irgendeine Weise bis zum Abitur, vor allem durch ihren Charme, und heiratete mit dreiundzwanzig einen geschäftstüchtigen Elektriker. Die Ehe wirkte unerschütterlich, und Thor Kaspersen behandelte Marianne noch immer wie edles Kristall. Die beiden Töchter waren jetzt Teenager. Kasper war zur großen Freude der Familie noch nachgekommen, gleichsam zum Dessert. Der Junge war bezaubernd, gut in der Schule und bildhübsch. Alle drei hatten genetisch den Hauptgewinn gezogen: das Aussehen der Mutter und den scharfen Verstand und die geschickten Hände des Vaters.
Marianne bezeichnete ihren Schwager konsequent als den »Muslim«. Bei allen anderen hätte Inger Johanne sich provoziert gefühlt, aber jetzt lächelte sie und schüttelte kurz den Kopf.
»Was war denn der Unterschied?«, fragte sie. »Zwischen Sander und Kasper?«
»Zehn Kilo«, kicherte Marianne, dann wurde sie sofort wieder ernst und riss dramatisch die Augen auf. »Verzeihung. Das sollte bloß ein Witz sein. Kasper ist ja eher klein geraten, wie du weißt, und Sander war doch ziemlich ... groß.«
»Ja.« Inger Johanne nickte. »Er war ein großer, kräftiger Junge. Aber das hatte ich nicht gemeint.«
»Kasper ist eher ... ruhig. Ich meine, klar ist er ein richtiger Junge, Gott bewahre. Viel aktiver, als Kjerstin und Kristin in dem Alter waren. Guter Fußballspieler. Aber bei Sander war das doch irgendwie anders.«
Inger Johanne fiel auf, dass eigentlich das ganze Wohnzimmer blau war. Weiße Wände, ein wenig blassrosa zwischendurch, ein Kissen und eine Kerze, aber die Sofas auf beiden Seiten des Glastisches waren eisblau, auf dem Tisch lag eine babyblaue Decke, und die drei Ölgemälde an den Wänden waren in Mitternachtsblau bis Chlorblau gehalten. Sogar die Kleider der Kinder auf dem überdimensionalen Foto waren blau. Marianne arbeitete in Teilzeit als Schwesternhelferin und hatte offenbar Freizeit genug.
»Ich begreife immer noch nicht, was an ihm so anders war«, sagte Inger Johanne und griff nach einer Flasche mit Mineralwasser. »Ich würde gern dahinterkommen, was den Jungen wirklich ... charakterisiert hat. Nicht, dass er laut war. Das sind viele Kinder. Nicht, dass er sehr aktiv war. Da war er auch nicht der Einzige. Ich denke mehr an ...«
Sie goss Wasser in ein schönes blaues Glas und überlegte.
»Er schien die ganze Zeit die Erwachsenen zu testen«, sagte Marianne plötzlich, und Inger Johanne schaute auf.
»Ach?«
»Alle Kinder müssen zurechtgewiesen werden«, sagte Marianne. »Meine natürlich auch. Vor allem Kasper. Alle reden darüber, wie Kinder Grenzen ausdehnen wollen, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie
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