Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
ein solides Fundament haben. Das kriegen wir nicht über Nacht. Es gibt Regeln dafür, wie man es bekommt. Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Stein auf Stein legen. Es kann langweilig sein, es wird nicht zu sehen sein, wenn alles fertig ist, aber es ist dennoch absolut entscheidend dafür, dass unser Bau hält.«
»Verstehe.«
»Wirklich?«
Sie wirkte eher resigniert als wütend, aber er wagte nicht, ihren Blick zu erwidern, als sie sagte: »Ohne diesen ...«
Sie warf einen Blick zur Tür und zog die gespreizten Finger der rechten Hand durch ihre Haare.
»... wäre diese Ermittlung nicht so schiefgelaufen. Sie wären nie in den Glads vei geschickt worden. Sie hätten niemals Ihre wirren ... Vernehmungen durchführen dürfen, falls man das überhaupt so nennen kann. Sie fahren mit der U-Bahn nach Grorud und sprechen mit einer zentralen Zeugin per ...«
»Skype«, murmelte er, als sie zögerte.
»Skype«, sie nickte. »Aus Australien. Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nein.«
»Haben Sie sie gefragt?«
»Nein. Aber ich weiß immerhin, wie ich sie erreichen kann.«
»Sie werden sie überhaupt nicht erreichen. Sie hätten gar nicht mit ihr reden dürfen. Sie können mir alle Informationen geben, die Sie haben, und den Fall dann vergessen.«
Sie beugte sich wieder zu ihm vor, aber diesmal eher mütterlich als aggressiv.
»Sie müssen loslassen, Henrik. Loslassen. Wenn sich weitere Zeugen oder Beteiligte oder Gott weiß was an Sie wenden, verweisen Sie sie weiter.«
Er saß ganz still da. Sogar seinen Oberschenkel hatte er endlich unter Kontrolle.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragte sie eindringlich.
Er hatte verstanden.
Das Problem war, dass sie ihn nicht verstand. Tove Byfjord hatte nicht an der Wand der Großmutter ein Foto von Sander gesehen. Sie wusste wohl kaum, wie es war, ein Kind zu sein, wenn die Welt draußen gegen einen war und der einzige Ort, wo es Licht und Geborgenheit gab, der Küchentisch zu Hause, wo man Kakao trank und über Brachiosaurier plauderte und andere längst ausgestorbene und also ungefährliche Wesen. Tove Byfjord hatte einen festen Blick und eine scharfe Zunge und einen Busen, von dem er unmöglich die Augen abwenden konnte. Sie war auf dem Schulhof nie schikaniert worden. Er erkannte sie, trotz des Altersunterschieds, so wie er immer die Könige und Königinnen seiner Kindheit erkannte, die Sieger von damals, als er das Leben für eine ewige Übung in der Kunst des Ausweichens gehalten hatte, der Kunst, sich bedeckt zu halten und Tricks gegen die Angst zu finden. Tove Byfjord hatte keine Ahnung, wie sehr ein Kind sich danach sehnen konnte, abends ins Bett zu kriechen, nach der Geborgenheit, die der Arm eines starken Mannes bot, der nach Wald und ein wenig nach Schweiß roch. Sie war immer allein zurechtgekommen, diese Tove Byfjord, das konnte er sehen, denn er hatte sein Leben lang solche wie sie gesehen.
»Sander hatte es zu Hause nicht gut«, sagte Henrik trotzig. »So sollten Kinder nicht leben müssen. Wir können einen solchen Fall nicht auf sich beruhen lassen.«
»Das werden wir ja auch nicht. Das wissen Sie doch.«
Er merkte, dass sie jetzt wieder ungeduldig wurde, und stand auf.
»Na gut«, sagte er. »Aber ich hoffe, jemand wendet sich ziemlich bald an diesen Rektor. Wenn Elin Foss die Wahrheit gesagt hat, ist das doch ein Skandal.«
»Das sehe ich auch so«, sagte sie. »Wir machen das so bald wie möglich. Aber jetzt ist Sommer, die Schulen haben Ferien, und dann ist da eben dieser ...«
»Dieser andere Fall«, sagte Henrik Holme und ging, leicht erstaunt darüber, dass ihm diese spöttische Bemerkung gelungen war.
»Yngvar ...«
Inger Johanne flüsterte, auch wenn sie ihn eigentlich wecken wollte. Er brummte etwas, das sie nicht verstand, und kehrte ihr den Rücken zu. Es war zwanzig vor eins. Yngvar war wie üblich nach dem Essen ins Bett gefallen, er schlief mehr, als sie bei einem Erwachsenen für möglich gehalten hätte. Meistens kam er gegen acht nach Hause, aß, duschte und ging schlafen. Alles fast ohne ein Wort. Der Schlaf war eine Flucht, vermutete Inger Johanne. Sie ließ ihn flüchten. Das Essen stand auf dem Tisch, wenn er kam, und er aß allein. Ab und zu machte sie mit Jack einen Abendspaziergang, wenn sie das Essen auf den Tisch gestellt hatte, und in der Regel war Yngvar eingeschlafen, wenn sie nach Hause kam. Sie führten parallele Leben, ohne die Kinder und alles, was sie sonst an die alltäglichen
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