Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Junge auf der Zeichnung hielt ein Schmusetier im Arm. Es war grün und hatte große Ähnlichkeit mit einem Schwein. Obwohl das Bild natürlich eine Kinderzeichnung war, war es nicht flach und zweidimensional. Die Bücher, die auf dem Nachttisch lagen, waren mit einem Blick für das Perspektivische gezeichnet, den Inger Johanne bei einem Siebenjährigen für sehr ungewöhnlich hielt. Das Bett hatte ebenfalls Tiefe: Sander hatte es vorn breiter gemacht als hinten an der Wand.
»Er hat sogar Batman gezeichnet«, sagte Marianne und beugte sich noch weiter vor. »Er sagt, das ist sein Lieblingsschlafanzug.«
Inger Johanne nickte zerstreut.
Sie blickte nicht mehr auf die Schlafzimmerszene. Sie interessierte sich eher für den Rahmen. Das rechteckige Bild war von einem schwarzen, acht bis zehn Zentimeter breiten Feld umgeben. Hier und dort hatte Sander so fest aufgedrückt, dass im Papier Löcher entstanden waren.
»Das muss doch der Nachthimmel sein«, sagte Marianne, als sie sah, wie Inger Johannes Zeigefinger vorsichtig über die schwarze Fläche strich. »Siehst du die Löcher? Das sind sicher die Sterne. Wenn man das Bild an eine weiße Wand hängt, sieht es jedenfalls so aus.«
Sie lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und faltete die Hände vor den Knien.
»Ich muss es Ellen und Jon ja wohl irgendwann geben. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber wenn eine gewisse Zeit vergangen ist. Sander war doch ein echter Künstler. Vielleicht hat die Welt einen neuen Edvard Munch verloren.«
Inger Johanne hörte nicht zu. Noch immer ließ sie den Finger über das breite Feld um die Zeichnung wandern. Offenbar waren unterschiedliche Stifte benutzt worden. So, wie es sich anfühlte, waren es wohl Wachsmalkreiden gewesen, aber in der schwarzen Fläche fand sie auch noch dunklere, wütende Striche, wie von einem dünnen Filzstift oder einem Kugelschreiber. Sander hatte alle schwarzen Stifte benutzt, die ihm zur Verfügung gestanden hatten, als ob er den Rahmen um das gemütliche Schlafzimmer gar nicht dunkel und düster genug hätte malen können.
»Ellen und Jon haben sicher jede Menge Zeichnungen von Sander«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Glaubst du, ich könnte diese hier haben?«
»Du? Warum denn? Du hast Sander doch gar nicht gut gekannt, du hast doch selbst gesagt, dass du ihn nur ein- oder zweimal pro Jahr gesehen hast.«
»Ich hätte sie aber trotzdem gern. Ich kann sie ja später mal Ellen geben. Ist das okay?«
Marianne zuckte mit den Schultern.
»Wo du so nett bittest ...« Sie lächelte. »Aber was willst du damit?«
Inger Johanne zog wegen ihrer Rückenschmerzen eine Grimasse und stand auf.
»Ich will sie mir nur ein bisschen näher ansehen.«
Sie ging mit der Zeichnung hinaus und hoffte, dass Marianne sie in wenigen Minuten vergessen haben würde. Sanders Bild hatte sie auf eine Weise berührt, wie es seinen Großmüttern nicht gelungen war.
»Glaubst du, wir können unser Nostalgieessen irgendwann mal nachholen?«, rief Marianne ihr nach. »Es wäre doch witzig, wenn wir Mädels uns alle mal wieder treffen könnten.«
Inger Johanne hörte es, als sie über den Kiesweg lief, ließ sich jedoch nichts anmerken. Der Schnauzer, der an einer Laufleine zwischen Fahnenstange und Haus hin und her lief, bellte ihr wütend hinterher, als sie sich ins Auto setzte und losfuhr.
»Ich habe da so ein Gerücht gehört, dass Sie ein genialer Modellbauer sind. Stimmt das?«
Henrik Holme witterte eine Fangfrage und gab keine Antwort. Er versuchte verzweifelt, still zu sitzen. Seine Schwester hatte ihm gesagt, dass er noch kindlicher wirkte, wenn er auf dem Stuhl hin und her rutschte. Außerdem zitterte immer sein rechter Oberschenkel, wenn er nervös war, und er brauchte all seine Selbstdisziplin, um ruhig zu bleiben. Tove Byfjords Stimme hatte etwas Beängstigendes. Sie war leise und beherrscht und hatte einen scharfen Unterton, bei dem ihm glühend heiß wurde. Vermutlich war sie wütend. Es wäre besser, gar nichts zu sagen, solange das nicht unbedingt nötig war.
»Stimmt das?«, fragte sie noch einmal.
Es war unbedingt nötig.
»Ja. Doch. So einigermaßen.«
Sie verzog den Mund zu etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte. Die kleinen spitzen Zähne gaben ihr das Aussehen eines Raubfisches, und Henriks rechter Oberschenkel zitterte jetzt unkontrollierbar.
»Was haben Sie denn zum Beispiel gebaut?«
Henrik räusperte sich und schluckte.
»Im Moment arbeite ich am Tadsch Mahal«,
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