Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
so fest aufgedrückt, dass das Papier gerissen ist.«
Er hielt das Bild ins Licht. An mehreren Stellen fielen Lichtstrahlen durch das Schwarze.
»Wie würdest du das erklären?«, fragte Inger Johanne.
»Was?«, fragte er und legte die Zeichnung auf die Bettdecke. »Das Bild oder den Rahmen?«
»Beides. Alles zusammen. Die Zeichnung als Ganzes, sozusagen.«
»Du bist hier die Psychologin.«
»Und du kennst dich mit Kindern aus.«
Yngvar lächelte und küsste sie auf den Kopf.
»Es kann sich ganz einfach um einen misslungenen Rahmen handeln«, sagte er. »Der Junge hat altmodische Gemälde mit breiten, schweren Rahmen gesehen und wollte auch so einen.«
»Wäre der dann nicht eher aus Gold? Und ein so guter Zeichner würde doch sicher versuchen, die Schnitzereien zu kopieren?«
Yngvar bewegte den Kopf hin und her und schnalzte mit der Zunge.
»Tja. Vielleicht. Pechschwarze Rahmen kommen nicht gerade häufig vor.«
»Und dann?«
»Dann bleibt nur noch die einfachste Erklärung«, sagte Yngvar und legte die Brille weg. »Dieser Junge hat ein Zimmer gezeichnet, einen Ort, wo er sich sicher und glücklich fühlt. Es ist wohl kaum bei ihm zu Hause. Kinder haben ja normalerweise kein Doppelbett. Und sie lesen auch eher selten Tom Egeland und Jeffrey Archer. In diesem Zimmer ist der Junge glücklich. Die Welt draußen ist bedrohlich, düster und böse.«
Er schob die Zeichnung auf Inger Johannes Seite des Bettes hinüber.
»Und damit ist es für heute genug. Ich muss schlafen, meine Liebe. Dringend.«
Er zog ein Kissen hinter seinem Rücken hervor, knipste die Nachttischlampe aus und drehte sich von Inger Johanne weg. Sie schaltete ihre eigene Lampe ein.
»War das Sander?«, murmelte Yngvar kaum hörbar.
»Ja.«
»Ich will das nicht hören. Ich kann jetzt einfach nicht mehr ertragen. Okay?«
»Okay.«
Inger Johanne starrte die Zeichnung an, bis Yngvars Atem langsamer wurde, gleichmäßiger. Er hatte in Sanders kleinem Kunstwerk dasselbe gesehen wie sie, am liebsten hätte sie ihn wieder geweckt, mit ihm gesprochen, ihm erzählt, was geschehen war, seit sie vor zehn Tagen und einer Ewigkeit im Glads vei erschienen war.
Das Schlafzimmer auf dem Bild kam ihr maskulin vor. Die Bücher, die dunkle Tapete, das Fehlen von Fotos und Cremes auf dem Nachttisch – das konnte nicht Helga Mohrs Zimmer sein. Es entsprach auch nicht Ellens Geschmack, und Inger Johanne war sich zudem sicher, dass Jon und Ellen Hästens-Betten hatten. Sander hätte die typischen Karos gezeichnet. Dies war ein Bett mit hohen Beinen und hohem Kopf- und Fußteil.
Joachim, dachte sie und runzelte die Stirn. Ellen hatte gesagt, er könne mit Sander so gut umgehen. Es kam ihr komisch vor, dass der Junge so oft bei dem viel jüngeren Freund des Vaters übernachtet hatte. Andererseits waren Ellen und Jon auf solche Hilfe angewiesen. Agnes Krogh hatte Joachim nicht erwähnt, aber sie hatte zu ihrem Enkel ja auch seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt.
Joachim hatte nach Sanders Tod sehr betroffen gewirkt, das fiel ihr jetzt ein. Vielleicht hatte er den Jungen wirklich gekannt. Vielleicht gab es da außerhalb der Familie endlich einen Menschen, der Sander gern hatte und der erzählen konnte, wie dessen Leben in den vergangenen Jahren wirklich ausgesehen hatte.
Gleich morgen würde sie Kontakt zu Joachim aufnehmen. Sie wusste nicht mehr, wie er mit Nachnamen hieß, aber das würde ihr die Website von Mohr und Westberg verraten. Morgen, dachte sie, schob die Zeichnung auf den Nachttisch, legte sich hin und knipste das Licht aus.
»Wir kriegen einen kleinen Jungen«, flüsterte sie ins Dunkel.
Aber Yngvar schlief.
»Glaubst du, es kommt jemand?«, fragte Ellen Mohr leise und schenkte sich Rotwein nach.
Jon lehnte schweigend am Türrahmen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sein dunkelgrüner Seidenschlafanzug wirkte im trüben Licht der einsamen Kerze auf dem Küchentisch fast schwarz. Es war nach halb vier. Ein neuer Sommertag ließ einen feinen Streifen Himmel im Osten aufleuchten, aber der Raum lag noch im Halbdunkel. Es waren noch anderthalb Stunden bis Sonnenaufgang.
»Trinkst du schon wieder«, sagte er tonlos.
»Ich kann nicht schlafen.«
Er schaltete die Deckenlampe ein.
»Glaubst du, es kommt jemand?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Es ist Sommer«, sagte er. »Die meisten sind verreist.«
»Ich habe um eine extragroße Todesanzeige gebeten, aber das war wohl nicht möglich, jedenfalls nicht in Aftenposten.
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