Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
eigentlich nur nach Grenzen suchen. Glaubst du nicht? Wenn die Grenzen klar sind, dann sind Kinder eigentlich ziemlich pflegeleicht. Aber Sander schien die ganze Zeit auf Hochtouren zu laufen, immer mit einem halben Auge auf die Erwachsenen, die gerade in der Nähe waren. Er schien nie so ganz zu wissen, wo die Grenzen lagen. Er hatte etwas ... Nervöses. Verstehst du?«
»Du meinst, dass er Angst hatte?«
»Angst vielleicht nicht gerade, aber auf jeden Fall war er unsicher. Als ob die Grenzen in seinem Leben mal hier gelegen hätten ...«
Sie markierte mit der rechten Hand einen Punkt in der Luft.
»... und mal dort.«
Die linke Hand zeichnete an einer ganz anderen Stelle einen Strich.
»Ich will Ellen und Jon wirklich nicht kritisieren, aber für Sander kann es nicht leicht gewesen sein. Und sein Verhalten wirkte auf andere Kinder manchmal arg verwirrend. Jedenfalls war das so bei Kasper. Es war einfach anstrengend für ihn, mit Sander zusammen zu sein.«
Inger Johanne spielte an einem Sofakissen herum. Sie hatte sich seit einer Ewigkeit nicht mehr so verwirrt gefühlt. Vor einer Woche hatte die eine Großmutter von Sander sie als Detektivin anheuern wollen, um zu beweisen, dass der Junge nicht von seinem Vater umgebracht worden war. Heute hatte die andere Großmutter den Gegenbeweis von ihr erbeten. Außerdem hatte ihr irgendwer eine anonyme Mitteilung gesendet, um ihr Interesse für den Fall zu wecken. Sie hatte keine Ahnung, wer das sein konnte, und kaum einen Gedanken an die SMS verschwendet, bis Agnes Krogh den Hauges vei verlassen hatte und sie endlich zu dem Schluss gekommen war, dass sie etwas unternehmen musste.
Seit dem fatalen Freitag vor zehn Tagen hatte sie versucht, sich möglichst weit von Sander Mohrs Schicksal zu distanzieren. Erst an diesem Tag hatte sie eingesehen, dass das unmöglich war. Die Filmszene, die Agnes ihr gezeigt hatte, konnte man unmöglich vergessen. Jedenfalls die Geräusche. Die Bilder waren beim zweiten Durchgang nicht mehr ganz so schlimm gewesen. Der Junge war ungeheuer trotzig gewesen. Hatte sich auf den Boden fallen lassen, sich schwer gemacht. Ihn einfach hochzuheben und mitzunehmen war da nicht unbedingt die schlechteste Idee gewesen.
Mit seinen Schreien aber konnte sie nicht leben.
Sander war ein Junge, den sie gekannt hatte, wenn auch nicht besonders gut, und es gab zwischen ihnen zu viele Berührungspunkte, um der Sache jetzt den Rücken zu kehren. Die Unklarheiten rund um den Unfall ließen sie nicht mehr los. Yngvar und Inger Johanne hatten sich gut zehn Jahre zuvor bei einer polizeilichen Ermittlung kennengelernt, an der sie sich um keinen Preis hatte beteiligen wollen. Seither wehrte sie immer ab, wenn er sie abends, vielleicht nur durch einen Nebensatz, in irgendein Geheimnis einweihen wollte.
Diesmal war sie ganz allein. Ihr Widerwille war noch größer gewesen als sonst. Es hatte länger gedauert.
Mit Marianne hatte sie sich aus einem plötzlichen Impuls heraus verabredet, aber vielleicht war das gar nicht so dumm. Auf irgendeine Weise musste sie sich Sander nähern, ihn besser kennenlernen.
»Aber er konnte unglaublich gut zeichnen«, sagte Marianne.
»Das habe ich schon verstanden.«
»Das hier musst du sehen. Einen Moment.«
Marianne stand auf und lief aus dem Zimmer. Inger Johanne leerte ihr Glas. Ihr Rücken schmerzte nach der Gartenarbeit des Vortages, und das leise Ziehen im Kreuz machte ihr Sorgen.
»Sieh mal«, sagte Marianne lächelnd und setzte sich wieder, ehe sie Inger Johanne eine große Zeichnung hinhielt. »Hast du schon mal so was Schönes gesehen? Sander hat das im vorigen Herbst gemalt. Er wollte es wohl Ellen geben, aber dann ist es hier liegen geblieben.«
Es war ein DIN-A3-Blatt. Inger Johanne legte es auf ihre Knie und rückte ihre Brille gerade.
In ein großes Viereck mitten auf dem Blatt hatte Sander ein Schlafzimmer gezeichnet. In einem breiten Doppelbett mit dunkelrotem Bettzeug saß ein blonder lächelnder Junge. Auf jeder Seite des Bettes stand ein Nachttisch, detailliert wiedergegeben bis zum digitalen Wecker mit roten Zahlen, einem Spielzeugboot und ein paar Büchern. Über dem Bett hing das gerahmte Bild eines tauchenden Wals, die breite Schwanzflosse erhob sich über einer Kaskade aus Tropfen.
»Unglaublich, was?«
Marianne lächelte, legte den Kopf schräg und beugte sich vor, als könne sie von dem schönen Bild nicht genug bekommen.
»Ja«, murmelte Inger Johanne. »Das ist ... phantastisch.«
Der
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