Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Trivialitäten band, aber seltsamerweise hatte sie sich ihm lange nicht mehr so nahe gefühlt. Es konnte ein Blick sein, den er ihr zuwarf, wenn er die Treppe hochkam, schwer und müde, eine Weichheit in seinen Händen, wenn er ihre Schultern streifte, während er an dem Sofa vorbeiging, auf dem sie in ein Buch vertieft saß, mit dem Rücken zu ihm. Er fehlte ihr, aber in diesen kleinen Zeichen lag eine unausgesprochene Dankbarkeit, eine stumme Zusammengehörigkeit, die sie beide brauchten. Jedenfalls sie selbst.
»Yngvar«, wiederholte sie ein wenig lauter. »Bitte, wach auf.«
Verwirrt versuchte er, aus dem Schlaf und dem Bettzeug aufzutauchen.
»Wie spät ist es denn?«, murmelte er matt.
»Mitten in der Nacht. Aber du musst mir helfen.«
Plötzlich wirkte er hellwach.
»Stimmt was nicht? Die Kinder ... wo sind die Kinder?«
Er stand nackt mitten im Zimmer, in einem Tempo, das sie ihm niemals zugetraut hätte.
»Alles ist gut!«, rief sie. »Yngvar! Allen geht es gut!«
Jetzt wurde er richtig wach. Die Luft wich aus seiner Lunge. Seine Schultern senkten sich, der Bauch wurde schlaff, und er gähnte ausgiebig, ehe er sich setzte und sich im Bett nach hinten kippen ließ.
»Verdammt«, murmelte er. »Da hab ich wohl geträumt.«
»Ich wollte nur mit dir reden.«
»Muss schlafen. Wirklich. Ich muss schlafen.«
»Ich brauche Hilfe.«
»Wobei denn?«
Er stützte sich auf den Unterarm und griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch.
»Du musst dir eine Zeichnung ansehen«, sagte sie.
Er leerte das Glas, dann drehte er sich mit irritierter Miene zu ihr um.
»Was? Du weckst mich mitten in der Nacht, damit ich mir eine Zeichnung ansehe? Es ist doch ...«
»Fast eins«, sagte sie rasch. »Aber das hier ist wichtig, Yngvar. Und jetzt bist du ja ohnehin schon wach. Bitte.«
»Na gut. Was denn für eine Zeichnung?«
»Warte.«
Sie streifte die Decke ab und lief aus dem Zimmer. Als sie gleich darauf zurückkehrte, hatte Yngvar sich aufgesetzt, sich Kissen in den Rücken gestopft und die Nachttischlampe eingeschaltet.
»Hätten wir das nicht machen können, bevor ich schlafen gegangen bin?«
»Du warst nicht ... im Moment ist es nicht gerade leicht, mit dir zu sprechen. Außerdem wollte ich dich nicht damit belästigen. Aber ich kann nicht schlafen, und da dachte ich, du könntest ...«
Sein Gesicht öffnete sich zu einem Lächeln, das sie seit über einer Woche nicht mehr gesehen hatte.
»Du bist wunderbar«, sagte er. »Weißt du das?«
Sie reichte ihm Sanders Zeichnung und kam wieder ins Bett. Yngvar suchte auf dem Nachttisch nach seiner Lesebrille und setzte sie auf die Nase. Er hielt das Bild ins Licht und musterte es lange.
»Eine Kinderzeichnung«, sagte er endlich. »Aber nicht von einem von unseren. Ragnhild zeichnet alles flach, und die Menschen sind immer von vorn zu sehen. Aber hier sind doch ...«
Er schob sich mit seinem dicken Zeigefinger die Brille höher auf die Nase.
»Dieses Kind kennt sich mit der Perspektive fast perfekt aus«, sagte er sichtlich beeindruckt. »Wer ist es?«
»Nachher«, winkte sie ab. »Ich will wissen, was du siehst.«
»Ein glückliches Kind in einem Doppelbett«, sagte er gehorsam. »Ein Plakat aus den Neunzigerjahren oder so über dem Bett, eine Walflosse, die gleich verschwinden wird. Die Wassertropfen sind wirklich gut gelungen. Es ist ein Junge, glaube ich, und er hat ein grünes Schmusetier, das ist wohl ein ... Schwein? Gibt es Schmuseschweine?«
»Also, Yngvar! Was ist mit Ferkel aus Pu? Dussel. Was siehst du sonst noch?«
»Ist das ein Batman-Schlafanzug? Ein Schiff neben der Lampe, es ist halb neun, und die Bettwäsche ist tiefrot und hat eine Art Muster. Drei Bücher. Eins ist von ...«
Er drehte die Zeichnung um und hielt sie sich dichter vor die Augen.
»Jo Nesbø.« Er lächelte. »Das andere ist von Tom Egeland. Das dritte ...«
Er kniff die Augen zusammen.
»Und Jeffrey Archer ist auch ganz richtig geschrieben! Wer in aller Welt hat das hier gezeichnet?«
»Siehst du noch mehr?«
»Nein.«
»Doch. Schau gut hin.«
Er ließ den Zeigefinger an seinem Nasenrücken auf und ab wandern und schob die Unterlippe vor.
»Eigentlich schade, das mit dem Rahmen«, sagte er endlich. »Wo der Junge ... das ist doch ein Junge, oder?«
Sie nickte kurz.
»Wo der Junge sich solche Mühe mit der Zeichnung gegeben hat, ist es schade, dass er sie mit dem dicken schwarzen Rand fast schon ruiniert hat. Da war er arg heftig! Schau mal, er hat
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